KOMMENTARE
: Widerliche Sprüche

■ Gegenüber der Türkei haben Bundesregierung und EG längst versagt

Donnerstag nachmittag — am Abend zuvor waren die NVA-Panzer in Kurdistan über die deutschen Bildschirme geflimmert — gab sich das Bonner Auswärtige Amt einen Ruck. Ab sofort sollten Waffenlieferungen in die Türkei gestoppt werden, bis geklärt sei, ob diese vertragswidrig eingesetzt wurden. Diese natürlich begrüßenswerte Maßnahme läßt sich mit drei Worten charakterisieren: zu wenig, zu spät und deshalb kontraproduktiv.

Zuerst einmal war die Entscheidung offenkundig innenpolitisch motiviert und nicht Teil eines außenpolitischen Konzepts. Nachdem die deutsche Öffentlichkeit im Anschluß an den Golfkrieg II gelernt hat, daß Saddam Hussein nicht einfach die Kurden im Irak massakrieren darf, ist es nun schwer zu erklären, warum es für den Nato-Verbündeten Türkei erlaubt sein soll. Was aber bewirkt diese vermeintliche Demonstration des guten Willens vor Ort, in Kurdistan, welches außenpolitische Kalkül steht dahinter? Natürlich weiß Genscher, daß eine vorübergehende Verzögerung von Waffenlieferungen in die Türkei an der militärischen Situation überhaupt nichts ändert. So leicht kann und darf sich die deutsche Außenpolitik nicht davonstehlen und so tun, als könne sie ihre Hände in Unschuld waschen. Die Bundesregierung weiß seit langem, daß die türkische Armee ihr Waffenarsenal in Kurdistan unterschiedslos einsetzt — und Ankara ist es völlig egal, woher die Waffen kommen.

Da dies nie gerügt wurde, werden die türkischen Militärs die Maßnahme auch jetzt als innenpolitische Demonstration einordnen und sich entsprechend wenig von Protesten beeindrucken lassen. Schwierigkeiten bekommt nicht der Generalstab, unangenehm wird es für Ministerpräsident Demirel. Das aber wäre das Dümmste, was Bonn derzeit tun könnte. Demirel wurde im Herbst letzten Jahres als Ministerpräsident gewählt. Er regiert zusammen mit den Sozialdemokraten, auf deren Ticket eine Reihe kurdischer Politiker in die Nationalversammlung gewählt wurden und damit große Hoffnungen auf Reformen in Kurdistan auslösten. Demirel schien gewillt, diesen Erwartungen auch zu entsprechen. Im Gegensatz zu Özal, der in einer großen Geste den Kurden gnädig erlaubte, ihre Sprache sprechen zu dürfen, erklärte Demirel erstmals seit Existenz der türkischen Republik 1924, daß die Kurden auch in der Türkei eine eigenständige ethnische Gruppe bildeten — mit eigener Kultur, eigener Sprache und eigener Schrift. Seitdem dürfen kurdische Publikationen erscheinen. Ein Kurde, der sich zu seiner Volkszugehörigkeit bekennt, wird nicht mehr automatisch verfolgt. Zumindest auf dem Papier.

Der Regierung Demirel war natürlich klar, daß das Militär und der gesamte Repressionsapparat des Landes einen Schwenk in der Kurdistan-Politik nicht ohne weiteres mittragen würden. Gleiches galt und gilt auch für die kurdische Guerillaorganisation PKK. Es war und ist fraglich, ob PKK-Chef Abdullah Öcalan sich von der guten Absicht Demirels überzeugen läßt und ob ihm ein ausreichendes Angebot für eine Verhandlungslösung gemacht wurde. Voraussetzung für einen Dialog ist aber, daß Demirel das Militär kontrolliert und nicht umgekehrt. 1980 putschte das Militär denselben Demirel aus dem Amt. Er weiß also, wovon er spricht, wenn er fordert, die türkische Gesellschaft müsse zivilisiert werden, das Primat der Politik erst einmal durchgesetzt werden. Hier lag und liegt die Aufgabe deutscher und europäischer Außenpolitik. Und hier liegen Genschers Versäumnisse.

In Spanien haben EG, Nato und USA bewiesen, wie die Transformation einer Militärdiktatur in eine zivile Gesellschaft international abgestützt werden kann. Die Putschversuche des spanischen Heeres nach dem Tod Francos sind nicht zuletzt daran gescheitert, daß der Generalstab um die fehlende internationale Unterstützung wußte. Das half der Übergangsregierung und stabilisierte Gonzales' Position. Demirel hingegen hat man völlig allein gelassen. In Brüssel ist längst entschieden, daß die muslimische Türkei keinen Eintritt in den exklusiven christlichen Club der Reichen Europas erhält. Das Verhältnis zu Ankara ist ein rein instrumentelles. Auch die EG interessiert sich — nicht anders als die Nato — nur aus rein militärischen Gründen für die Türkei. Nach der Auflösung der Sowjetunion ist ihr militärischer Kurswert angesicht der Konfliktlage im Nahen Osten und im Kaukasus eher noch gestiegen. Deshalb sind die Militärs soviel wichtiger als die Träume von einer zivilen, demokratischen Gesellschaft, die in der Türkei im letzten Herbst kurz erblüten.

Der türkische Generalstab weiß genau, daß er mit ernsthaften Sanktionen nicht zu rechnen braucht, und Genscher, die EG wie die Nato letztlich selbst einen neuerlichen Putsch gegen Demirel hinnehmen würden. Deshalb kann der türkische Ministerpräsident keinen ernsthaften Konflikt mit seinen Militärs riskieren und deshalb wird in Kurdistan weiter geschossen. Und deshalb auch sind Genschers Sprüche im Moment so besonders widerlich. Jürgen Gottschlich