Der Mythos der Aufreißer

■ Der Osten und das Virus: Erste Umfrage zum Thema Aids mit erstaunlichen Ergebnissen

Trotz der geringen Ausbreitung der Immunschwäche hat Aids in Ostdeutschland eine große Bedeutung. Jeder dritte Einwohner hält Aids für das wichtigste Gesundheitsproblem, die übrigen setzen Aids nach Krebs an die zweite Stelle. Nur vier Prozent haben sich noch nie mit dem Thema beschäftigt. Dies geht aus der ersten Umfrage zu Aids hervor, die vor zwei Jahren — noch zu DDR-Zeiten — unter 1.287 Personen durchgeführt und jetzt im Aids-Zentrum des Bundesgesundheitsamts von Wolfgang Kiehl, Michael Häder und Ulrich Hinterberger herausgegeben wurde.

1986 wurden in der DDR die ersten zehn HIV-Infektionen bekannt. Bis Anfang 1992 waren durch den Antikörpertest und „Contacttracing“ 450 Infizierte ermittelt worden. Darunter befanden sich etwa 200 Ausländer, die das Land inzwischen — nicht immer freiwillig — verlassen haben. Seit der Wende ist die Zahl der Menschen mit HIV durch den Ost-West-Verkehr deutlich angestiegen. Allein 1991 kamen 103 Neuinfektionen dazu. Dennoch haben sich die schlimmsten Befürchtungen bisher nicht bestätigt. „Es gibt eine große Chance, daß in Ostdeutschland eine extreme Situation ausbleibt“, sagt Wolfgang Kiehl, der als Epidemiologe im Aids-Zentrum die Zahlen im Osten überwacht.

Die bei der Umfrage ermittelte starke Wahrnehmung von Aids steht im Gegensatz zur gegenwärtig noch geringen Verbreitung der Krankheit. Dies zeigt, welchen Eindruck die Metapher Aids mit ihren Assoziationen von Sexualität, Prostitution, Drogen, Siechtum und Tod auf die DDR-Bevölkerung gemacht hat.

Auf vier Jahre wird der zeitliche Vorsprung der neuen Bundesländer gegenüber dem Westen geschätzt. Ob er auch genutzt wird, muß sich erst noch zeigen. Die Ausgangssituation ist jedenfalls günstig: Der Informationsstand im Osten hat dasselbe Niveau wie in der alten Bundesrepublik — nicht zuletzt dank Westfernsehen. Mehr als 70Prozent fühlen sich über Aids ausreichend informiert.

Nur wenige benutzen Kondome

Acht von zehn Befragten haben keine Angst vor Aids und halten eine eigene Gefährdung für ausgeschlossen. Demgegenüber sind ein Prozent „ziemlich sicher“, bereits infiziert zu sein. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung wären dies nicht weniger als 160.000 Personen. Eine fast groteske Überschätzung der realen Gefahr, die vermutlich auf vergangenes Risikoverhalten zurückgeht. Etwas mulmige Gefühle sind andererseits nicht ganz unberechtigt, denn von allen Befragten, die in den letzten zwölf Monaten neue SexualpartnerInnen hatten, benutzten nur 33,2Prozent ein Kondom. Keine berauschende Anlegequote. Zwischen Informationsstand und Verhalten klafft die auch im Westen bekannte Lücke.

Eine andere Gemeinsamkeit in Ost und West ist die Überschätzung der Promiskuität. Die berühmten Superpimperer mit ungezählten Sex- Kontakten sind ein Mythos. Zwischen den verbalen Heldentaten und dem tatsächlichen Vollzug tun sich statistische Abgründe auf. Vier Fünftel der Befragten hatten im vergangenen Jahr nur einen Sexualpartner (oder gar keinen). Nur drei Prozent der Frauen und sieben Prozent der Männer zählten mehr als drei PartnerInnen. Drei Viertel der befragten DDR-Bürger sehen sich gegen Diskriminierungstendenzen gefeit, 18Prozent wollen sich einem Infizierten sogar ganz besonders zuwenden. Allerdings wurden sie mit ihrer löblichen Einstellung bisher noch nicht auf die Probe gestellt.

Deutliche Unterschiede zwischen Ost und West zeigen sich in der Testbereitschaft, die durch jahrelange Propagierung in Ostdeutschland viel stärker ausgeprägt ist: 69Prozent waren grundsätzlich, 23Prozent eventuell zu einem HIV-Test bereit. Auffällig ist auch der geringe Anteil von drogenabhängigen Infizierten. Die Jugendlichen im Osten greifen bislang noch relativ selten zu sogenannten harten Drogen. Manfred Kriener