Mielke: Nazi-Protokolle werden nicht verlesen

■ Die alten Vernehmungen sollen im zweiten Bülowplatz-Verfahren „vorläufig“ keine Beweismittel sein

Berlin (taz) — Als der jetzt 84jährige Angeklagte 80 wurde, erschien einen leinengebundene Festgabe: Erich Mielke. Ausgewählte Reden und Aufsätze. Über den Lebensabschnitt, in den die derzeit in Moabit verhandelte und Erich Mielke zugeschriebene Mordtat vom 9. August 1931 fiel, heißt es in der Einleitung lediglich: „In den Jahren der Weimarer Republik beteiligte er sich mit dem ihm eigenen revolutionären Elan an den Klassenkämpfen des Proletariats.“

Auch das Gericht kam gestern der Wahrheitsfindung kaum näher. Entsprechend den Urkunden, die gestern verlesen wurden — Aussagen von Passanten, waffentechnische Gutachten und Obduktionsergebnisse, dürfte aber klar sein: Die beiden Polizeioffiziere wurden 1931 von zwei oder drei jungen Männern von hinten erschossen; Anlauf starb an den Folgen eines Kopfschusses, Lenck an einem Schuß in den Rücken. Einleitend hatte das Gericht einem Antrag des Verteidigers König jedenfalls halbwegs nachgegeben und verkündet. Es wolle die Aussagen der zum Teil sicher mißhandelten und 1933/34 als Mittäter Beschuldigten nicht verlesen — jedenfalls vorläufig. Das gelte aber nicht für die Aussagen des Johannes Broll. Broll war 1932 von der KPD und RFB zu NSDAP und SA übergetreten, daher habe er seine Aussage sicher freiwillig gemacht.

Das ist, nach Auffassung des Berichterstatters, fraglich: Solche Übertritte geschahen damals massenhaft und wurden von der SA, als ihr 1933 die Mitgliederlisten des Rotfrontkämpferbundes und der KPD in die Hände fielen, überprüft. Einige der Übergetretenen waren U-Boote der KPD, andere hatten falsche Angaben gemacht. Es ist also möglich, daß Broll 1933 in eine sehr unangenehme Lange geriet, sich wichtig tat und unter erheblichem Druck stand. Wie hatte Erich Mielke doch 1963 gesagt: „Die gewissenhafte Würdigung der strafbaren Handlung und des Täters ist die Grundlage für ein gerechtes Strafmaß.“ Entscheidend sei es, „alle Umstände und Folgen der Tat, seine Entwicklung, seine Arbeit für die Gesellschaft allseits zu beurteilen“. Götz Aly