Die Kunst des zufälligen Findens

■ Ohne Expertenhierarchie: Das Berliner »Institut für Heuristik«

»Der Begriff des Schattens hat ausschließlich positive Bedeutung, denn das ästhetische Licht muß sparsam verwendet werden.« (A.G. Baumgarten: Aestetica, 1750)

Borges neigt zu der Überzeugung, daß »die guten Leser noch geheimnisvollere und seltenere Vögel sind als die guten Autoren«. Einige dieser raren Leser scheinen sich im Berliner Institut für Heuristik gefunden zu haben. Sie publizieren seit zwei Jahren die Zeitschrift 'Schattenlinien‘, in der die Labyrinthe des Denkens und der Geschichte auf eigenartige Weise durchstreift werden. Zu den Themen, die in der Zeitschrift untersucht wurden, gehören die »Seele der Mechanik«, die »Gedächtniskunst« und das »Projekt Gedächtnisfeier«, die Verwendung der Schultafel bei Richard Serra, Joseph Beuys und Tamar Getter, das Verhältnis der Situationisten zu Schrift und Bild sowie ein Giftgasfund, über den Alexander Kluge einmal einen Film drehen wollte.

Der innere Zusammenhang zwischen dem scheinbar Disparaten stellt sich her durch die Perspektive, die Weise des Umgangs mit dem Material, die das Institut entwickelt hat: »Die Umrisse von Wahrnehmung und Wissen in den bunten Schatten der Vorgänge nachzuzeichnen, soll diese Zeitschrift leisten. Solches unterliegt keiner Expertenhierarchie«, heißt es programmatisch im Editorial der ersten Nummer. Die sieben Institutsmitglieder kommen aus verschiedenen Wissensgebieten (Soziologie, Kunstgeschichte, Philosophie, Betriebswirtschaft, Ethnologie, Religionswissenschaft u.a.) und arbeiten innerhalb des Instituts »an der Entwicklung von Auffindungsmethoden, um Wahrnehmungs-, Orientierungs- und Handlungsmuster ausfindig zu machen«. Diese Arbeit hat in den etablierten Wissenschaften noch keinen selbständigen Ort. »Heuristische Verfahren kommen vor am Rande jeder Wissenschaft, gelten aber oft als minderwertiger Kunstgriff. Wir kennen das als ‘nur eine Arbeitshypothese, nur eine heuristische Hypothese‚ für zwischendurch, die dann wegfallen soll. Demgegenüber denken wir, ist es sinnvoll, diese Randerscheinungen zu bündeln und besonders unser Augenmerk darauf zu richten. Während das in den einzelnen Disziplinen tatsächlich dann doch mehr instinkthaft vorkommt, bedeutet die Methode der Heuristik, daß gewisse Erscheinungen, die immer irgendwie schon benutzt werden, nun systematisiert werden.« Ziel der Unternehmungen sei es, »ausformulierte Erfahrungen mit Neuem zu entwickeln, so daß man Regeln aufstellen kann, wie man mit Neuem umgeht«.

Das klingt nur an der Oberfläche wie die Wahnidee eines Systems, das jede neue oder fremde Erfahrung integrieren und systematisieren kann; gemeint ist exakt das Gegenteil: Ein Denken, das sich nicht an »Ergebnissen« oder »Tatsachen« fixiert, sondern offene Strukturen entwickelt und so unter anderem die Kunst des zufällig Findens zu entfalten versteht.

Ein schönes Beispiel für diese Haltung, die nicht an Ergebnissen, sondern an streifender, zielloser Bewegung interessiert ist, gibt das Interesse, das sich im Institut an Gedächtnis und »Gedächtniskunst« entwickelt hat: »Gedächtnis nicht als Konservierendes, sondern als den Reichtum der Erfahrung für die Vorstellbarkeit Heranziehendes verstanden. Die Vorstellungskraft, die Phantasie — das geht natürlich auf Aristoteles zurück: Der Mensch benutzt die Eindrücke zum Denken, zum Vorstellen im Bereich der Phantasie. Man kann erkennen, daß die kreativen Gedächtniskünste im Barock durchaus als kreatives Verfahren ausgebildet wurden.«

Das Institut bewegt sich jenseits des akademischen Betriebs und am Rand der etablierten Kulturinstitutionen. Einer der Insitutsmitarbeiter ist Kunstkritiker, andere haben an diversen historischen Ausstellungsprojekten mitgearbeitet. Neben der Zeitschrift entstehen Filme, Ausstellungen und Bücher, die in einem assoziierten Verlag erscheinen. Die neue Nummer der Zeitschrift und eines der Bücher (Reiten Reiten Reiten) kreisen um »die Zeit zum Krieg 1914«. Es sind Röntgenblicke, die sich auf eine Epoche richten: Keine historiographischen Übungen, eher eine Lektüre der Tiefenschichten von Wirklichkeitsfragmenten, Gedichten, Denkmälern, Waffen, Propaganda. Der Untertitel des Buches klingt bescheiden: »Versuche mit Bildern zur Visualisierung von Geschichte«, aber wer die Illustration des längst bis zum Überdruß Bekannten fürchtet, wird überrascht: Geschichte meint hier vor allem Mentalitätsgeschichte; sichtbar werden die Versuche, Entwicklungen, die mit keiner bekannten Erfahrung zu greifen sind, zu verarbeiten. »Im Blick: Menschen, eine Gesellschaft im Schritt in die Moderne. Ihre Versuche, das Neue durch das Bild, die Vision zu kristallisieren.«

Was folgt, ist zunächst eine gelungene Montage. Neben Bildern, auf denen der Kaiser »Kaiser« spielt, zwei Luftaufnahmen Berlins: Ein Blick, in dem »die größte Mietskaserne der Welt« sich auflöst in abstrakte Struktur, auch ein Blick der Moderne: Flugzeug, Photographie und, einen Krieg später, der Blick der Bomberpiloten. Die Montage macht die Ungleichzeitigkeit von Mentalität und Technik sichtbar: Ein Kaiser als »Institution aus der Märchenwelt produziert seine Wirklichkeit durch eine Bilder-Welt.« In diese Märchenwelt bricht der Krieg als eine andere Zeit ein, in der die offizielle Bewußtseinsfassade des Kaiserreichs ebenso einstürzt wie das, was die Menschen für ihre Erfahrung gehalten haben: »Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper.« (Benjamin)

Im Augenblick bereitet das Institut eine Ausstellung und Veranstaltungsreihe zu Walter Benjamins 100. Geburtstag vor, die Anfang Juli in den Institutsräumen in der Mulackstraße stattfinden wird. Gedacht ist weder an akademische Huldigungsrituale noch an die Präsentation von Erstausgaben und Briefen hinter Panzerglas, statt dessen werden an Benjamins Werk heuristische Verfahrensweisen erprobt: So soll, der Struktur von Benjamins Passagenwerk angemessen, der Besucher mittels eines Computers die Möglichkeit haben, durch das Werk streifend, verschiedensten Verknüpfungen zu folgen und die Kunst des zufälligen Findens zu betreiben. Peter Laudenbach

Zeitschrift 'Schattenlinien‘, Nr. 4/5, 78 Seiten, 20 DM.

Institut für Heuristik, (Hg.): Reiten Reiten Reiten , 24 DM.

Institut für Heuristik, Postfach 610378, 1000 Berlin 61.