Der amerikanische Knoten

Die USA stehen vor einer Revolution ganz neuer Art — ihre Identität wird sich wandeln  ■ VON ANDREI MARKOVITS

Eine kürzliche Reise nach Europa hat erneut den Eindruck bekräftigt, den ich bei meiner Arbeit und meinen Reisen seit langen Jahren wiederholt gewonnen habe: Zu den vielen Unterschieden zwischen west- und osteuropäischen Intellektuellen gehört ihre jeweilige Wahrnehmung der Vereinigten Staaten. Osteuropäer — charakteristischerweise mit der bemerkenswerten Ausnahme der Ostdeutschen — sehen die Vereinigten Staaten nach wie vor in einem günstigen Licht. Werden Probleme überhaupt wahrgenommen, so werden sie in der Regel als ephemer und vorübergehend abgetan; mit Sicherheit berühren sie nur am Rande den im Wesentlichen positiven Kern, der — in den Augen der Osteuropäer — zu Hause wie im Ausland Amerika noch immer ausmacht. Für Osteuropäer hat Amerika seinen Glanz nicht verloren. Es ist noch immer ein Symbol der Hoffnung.

Vergleichen wir damit die negative Einstellung der Westeuropäer gegenüber den Vereinigten Staten, wobei sich die Deutschen durch besonders schrille Töne und zügellose Schadenfreude hervortun. In intellektuellen Kreisen herrscht ein weitgehend akzeptierter Konsens: Die Vereinigten Staaten sind in praktisch jeder Hinsicht am Ende — als moralisches Beispiel, als Wirtschaftsmacht, als politische Führungskraft, als soziales Experiment. In den Augen vieler westeuropäischer (und besonders deutscher) Intellektueller sind die Vereinigten Staaten auf das Niveau eines uninteressanten Drittweltlandes herabgesunken, mit einer schlecht funktionierenden kapitalistischen Wirtschaft, deren Probleme durch die Abenteuerlust ihres schießwütigen militärisch-industriellen Komplexes nur schlecht verhüllt werden. Vor allem begegnet man in Westeuropa häufig der Ansicht (oder handelt es sich um Wunschdenken?), Amerikas angeblicher Niedergang sei ein direktes Ergebnis des Zusammenbruchs des Leninismus in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion. Das stimmt nicht.

Anstatt diesen Punkt jedoch zu belegen, möchte ich den Rest dieses Essays lieber auf die Argumentation verwenden, daß Amerikas durchaus ernstzunehmenden Schwierigkeiten nicht nur hausgemacht sind und den Mängeln seiner eigenen Strukturen entspringen, sondern auch als Vorboten einer grundlegenden Neudefinition dessen auftreten, was Amerika im 21. Jahrhundert ausmachen wird. Tatsächlich erleben wir nicht weniger als eine revolutionäre Umwandlung der amerikanischen Identität, einen Prozeß, der nicht nur erregend ist, sondern auch fortschrittlich.

Ein erregender Prozeß

Symptomatisch für diesen Wandel ist die politisch bedeutsame Debatte über „Multikulturalismus“, den die konservativen Verleumder der Bewegung verächtlich als „korrekte Politik“ bezeichnen. Wenn auch jede Bewegung ihre orthodoxen Dogmen und „Betonköpfe“ aufweist, handelt es sich im Wesen des Multikulturalismus doch um das genaue Gegenteil. Er zielt darauf ab, in der Kultur und in den Wertvorstellungen eine neue Synthese freizulegen, zu fördern, zu differenzieren, zu verbreiten und letzten Endes zu erreichen, die den ungeheuren soziologischen Veränderungen gerecht wird, die zur Zeit die amerikanische Identität neu definieren. Das Ziel des Multikulturalismus liegt auf der Hand: den vorherrschenden eurozentrierten Kanon, der bisher das amerikanische Denken und Handeln monopolisierte, zu ergänzen und zu erweitern. Da Amerika zunehmend weniger europäisch wird — im kalifornischen Schulsystem, dem größten des Landes, werden noch vor Ende dieses Jahrzehnts die weißen Kinder in der Minderheit sein —, sollte dies auch für die Wertvorstellungen, die Hoffnungen und die Geschichte des Landes gelten. Wie es seiner Mitstreiterin, dem Feminismus, bereits gelungen ist, so wird auch der Multikulturalismus den öffentlichen und privaten Diskurs in Amerika verändern.

(Was den Feminismus angeht, überrascht mich bei meinen Europa- Besuchen immer wieder, wie sehr Europa hinter den USA herhinkt. Ich beziehe mich hier nicht auf den Feminismus der „einschlägigen Kreise“, für den die LeserInnen dieser Zeitung ein hervorragendes Beispiel bieten. Ich spreche über die Auswirkungen des Feminismus auf das Alltagsleben „normaler“ Menschen in 08/15-Firmen und -Organisationen. Daß ein großer Teil der europäischen Öffentlichkeit die Ungeheuerlichkeit des Falles Anita Hill schlicht nicht verstand und ihn dem amerikanischen Puritanismus zurechnete, ist nicht nur eine Beleidigung für Frauen — und ganz besonders für afro-amerikanische Frauen —, sondern verrät auch eine vorfeministische Sensitivität, die in den Vereinigten Staaten passe ist. Man beachte bitte, daß ich nicht behaupte, der Feminismus habe den Sexismus in den Vereinigten Staaten überwunden. Er hat jedoch der breiten Öffentlichkeit — jenseits einer Handvoll von Intellektuellen und schuldbewußten Männern — das Problem des Sexismus so tief ins Bewußtsein gebracht, daß man sich des Sexismus schämt. Er ist im öffentlichen Leben Amerikas einfach nicht mehr akzeptabel.)

Bleiben die Schwarzen immer außen vor?

Ich bin davon überzeugt, daß der Multikulturalismus letzten Endes Amerikas europäisch geprägten Kanon umschreiben wird — aber ich bin ebenso besorgt, daß es auch dieser Bewegung nicht gelingen könnte, auf eine materiell faßbare Weise eine ganz bestimmte Gruppe zu erfassen, die bisher durchweg von der vollen Teilnahme an der Gestaltung des öffentlichen amerikanischen Lebens ausgeschlossen war. Ich beziehe mich natürlich auf die 22 Millionen Afro-Amerikaner, die — als einzige Gruppe unter den amerikanischen Zuwanderern — als Sklaven in dieses Land kamen. Das Vermächtnis der Sklaverei ist bei uns bis heute lebendig und bildet den wichtigsten Grund, warum Afro-Amerikaner in dieser multiethnischen Gemeinschaft eine „Sondergruppe“ bilden. Diese starre Zweigleisigkeit ist nirgends besser beschrieben als in Andrew Hackers hervorragendem neuen Buch mit dem passenden Titel Zwei Nationen und dem treffenden Untertitel „Schwarz und weiß: getrennt, feindlich, ungleich“. Mittels einer Sammlung sorgfältig zusammengestellter Statistiken aus praktisch allen Lebensbereichen malt Hacker ein erschreckendes Bild, aus dem hinreichend deutlich wird, daß Afro-Amerikaner sich von allen anderen eingewanderten Bevölkerungsgruppen unterscheiden. Mir erscheint als erschreckendste Statistik die Tatsache, daß junge schwarze Männer inzwischen — vor allem untereinander — in einem solchen Ausmaß zur Gewalt greifen, daß in dieser Bevölkerungsgruppe der Mord zur verbreitetsten Todesursache geworden ist. Hacker bezeichnet dies zutreffend als „an sich selbst verübter Völkermord“. Entsprechend befinden sich mehr schwarze Männer in Gefängnissen als an Colleges. erzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Erniedrigung — verbunden mit der leichten Zugänglichkeit tödlicher Waffen — haben in diesem verwüsteten Milieu dazu geführt, daß das menschliche Leben jeden Wert verloren hat.

Die Tragödie all dessen liegt in der Tatsache, daß diese Entmenschlichung der Afro-Amerikaner einhergeht mit bisher unbekannten Fortschritten in praktisch allen Bereichen des amerikanischen öffentlichen Lebens. Der hervorragende schwarze radikale Soziologe Orlando Patterson hat daher recht, wenn er schreibt: „Die soziologische Wahrheit lautet, daß Amerika zwar durch seine Rassenbeziehungen ebenso wie durch die sture Ablehnung eines rationalen und umfassenden Fürsorgeystems noch immer verunstaltet ist — aber dennoch ist es heute weltweit die am wenigsten rassistische Gesellschaft mit weißer Mehrheit; Amerika bietet Minderheiten besseren rechtlichen Schutz als jede andere Gesellschaft, ob weiß oder schwarz: es bietet mehr Schwarzen mehr Möglichkeiten als jede andere Gesellschaft, sämtliche afrikanischen Länder eingeschlossen; und in den letzten 25 Jahren hat sich Amerika in seiner Haltung gegenüber der Rassenmischung dramatisch gewandelt.“ (The New York Times, 20. Oktober 1991). Amerika ist ein komplexes und widersprüchliches Land.

Zu den wichtigsten Gründen für diese zweigleisige Entwicklung zu einer zunehmend hoffnungslosen schwarzen Unterklasse und einer allmählich akzeptierten schwarzen Mittelklasse gehört der schnelle Niedergang der amerikanischen Industrie in industriellen Schlüsselstädten des Nordens und das klar reaktionäre Steuersystem auf der Grundlage schlimmster Kirchturmpolitik. Anders als bei den meisten ethnischen Gruppen, die ein Mindestmaß menschlicher Würde und wirtschaftlichen Wohlstands erwarben, indem sie ihre neu errungene politische Macht in konkrete Arbeitsplätze in blühenden städtischen Industrien umsetzten, erfolgte die politische Emanzipation der Schwarzen ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als diese Industrien sich aus den Städten entweder völlig zurückzogen oder geschwächt und schrumpfend zurückblieben.

olitische Macht errangen daher die Schwarzen in ökonomisch entleerten Einheiten. Nach dem Niedergang der Industrie in diesen Städten sanken auch die entsprechenden Steuereinnahmen, wodurch keine Wahl blieb, als die sozialen Dienstleistungen zu beschneiden. Dies wiederum nährte den ohnehin ablaufenden Prozeß der Flucht der Weißen in die Vorstädte, wo die neu geschaffenen Bürojobs auf willige Arbeitskräfte warteten. Da die wichtigsten Steuerbefugnisse bei den Gemeinden liegen, konnten sich die Vorstädte Einnahmen verschaffen, die sie — da rechtlich unabhängig — nicht mit ihren Mutterstädten teilen mußten. Hätten die Bundesstaaten den Gemeinden diese ungemein weitreichenden Steuermechanismen genommen und dann eine Politik der Neuverteilung begonnen, könnte die gegenwärtige Kluft zwischen Vorstadt (hauptsächlich weiß) und Innenstadt (in erster Linie schwarz) den Teufelskreis der beiden Nationen — getrennt, feindlich und ungleich — nicht so leicht in Gang halten.

Eine neue Klassenkoalition

Natürlich liegt die einzige Hoffnung, dieser verheerenden Entwicklung zu begegnen, in der Begründung einer gewissen Solidarität zwischen Schwarzen und Weißen. Dies läßt sich nur erreichen durch eine Art dauerhafter Klassenkoalition zwischen Schwarzen und Weißen auf dem Gebiet der Sozialpolitik und der ökonomischen Reformen. Nur die Demokratische Partei hat eine gewisse Chance, eine solche Koalition zu schmieden, was sie leider seit Ende der sechziger Jahre nicht getan hat. Im Moment ist es für Prognosen noch zu früh, aber Bill Clintons großer Erfolg bei den Vorwahlen hat bis zu diesem Zeitpunkt ein eben solches Klassenbündnis zwischen Schwarzen und Weißen geschmiedet. Daher besteht eine geringe Chance, daß die schwere Wirtschaftsrezession, unter der die weiße Arbeiterklasse seit einer Reihe von Jahren leidet, nun zu einem fortschrittlichen Bündnis mit den Schwarzen führen könnte, wodurch eine „Regenbogen“-Koalition zustande käme, die sich eher auf die Wirtschaft stützt als auf Kultur und Lebensstil.

Wie allgemein bekannt, erweisen sich im Kapitalismus Bündnisse aufgrund gemeinsamer ökonomischer Interessen immer als stärker und widerstandsfähiger als jene, die sich auf gemeinsame Wertvorstellungen und Kultur stützen. Es wird sich zeigen müssen, ob sie sich auf die Dauer als stark genug erweisen, um einer Mehrheit der Afro-Amerikaner die Würde des amerikanischen Lebens zu verschaffen.

Professor für Politikwissenschaft an der Boston Unviersity und Senior Fellow am Zentrum für Europastudien der Harvard University; Aus dem Amerikanischen von Meino Büning; siehe auch den doppelseitigen Beitrag des britischen Politologen Fred Halliday „Die große amerikanische Angst“ vom 4.4., Seiten 16 und 17