„Helden brauchen wir keine...

■ ...aber reale Menschen, die immer wieder neu zu sich zurückfinden!“ / Brief von Karl-Heinz Dellwo, Gefangen aus der RAF, seit 1975 inhaftiert.

Bernd ist haftunfähig. Seit Jahren. Das weiß der Bundesjustizminister, die Landesjustizministerin von Bayern, die Anstaltsleitung, das überwachende LKA, die Bundesanwaltschaft und das Oberlandesgericht Düsseldorf. — Und trotzdem haben letztere vor zwei Jahren seine Haftentlassung verhindert. (...)

Im März 1990 fragte der gleiche Senat, (der Bernd im Juli 1977 verurteilt hatte) Bernd im Anhörungsverfahren: „Könnten Sie sich eine Situation vorstellen, bei der Sie erneut einen bewaffneten Kampf gegen das herrschende System aufnehmen könnten?“

Bernds Antwort, „bei einer Machtübernahme des Faschismus' könnte ich mir einen bewaffneten Widerstand vorstellen - Demokratie mit kürzerer Distanz von Wahlen wäre segenbringend“, hat nur die Rachsucht wieder angestachelt, die sie (die Mitglieder des Senates) hinter ihren Schreibtischen quält.

Die Begründung, mit der sie die Haftentlassung ablehnten: „Der Verurteilte hat aber andererseits bei seiner Anhörung durch den Senat nach anfänglicher Zurückhaltung deutlich gemacht, daß er sich nach wie vor der RAF zurechnet und sich unter bestimmten, seiner Einschätzung unterliegenden Bedingungen auch vorstellen kann, sich im bewaffneten Widerstand in der Bundesrepublik Deutschland zu betätigen.“

Daß sie ihr eigenes Anhörungsprotokoll umfälschen und aus dem Konjunktivsatz „bei einer Machtübernahme des Faschismus“ ein „in der Bundesrepublik Deutschland“ drehen, war nur die Fortsetzung der bei ihnen inzwischen zur Gewohnheit gewordenen freihändigen Beweisführung.

Unsere erste Reaktion war: Sie haben recht! Sie säßen beim nächsten Mal auch wieder dort, wo sie vorher schonmal saßen, und von daher ist es Selbstschutz, daß sie den bewaffneten Kampf auch gegen den Faschismus, (übrigens von ihrem eigenen Grundgesetz gedeckt!) prophylaktisch kriminalisieren.

Mehr aber kam ihre Blindwut aus der Erkenntnis, trotz ihres Haftterrors nicht zum Ziel gekommen zu sein, zu Unterwerfung und zu Selbstdenunziation zur devoten Lobeshymne auf ihre Macht.

Bernd hat deutlich seine Situation beschrieben: „Ich fühle mich labil. Eine Erholung wäre für mich wichtig. Ich müßte meine körperliche Situation stabilisieren. Dazu ist hier nicht viel Gelegenheit. Ich fühle mich krank. Meine Augen und meine Atmungsorgane sind kaputt. Irgendwo ist der ganze Organismus kaputt.“

und weiter:

„Ich könnte nicht mehr bewaffnet kämpfen. Die Priorität ist Politik und nicht die Pistole. Das war schon meine Auffassung vor Stockholm.“

und weiter:

„Es tut mir leid, daß damals zwei Menschen umgekommen sind. Ich würdige die Toten der Gegenseite, so wie ich die Toten auf unserer Seite würdigen möchte.“

Über die Isolation wissen wir viel zu sagen. Sie war die meiste Zeit der Haft unser sprach- und wesenloses Gegenüber. Früher war Folter gewalttätig, heute ist sie der hergestellte Kaltzustand gegen das Leben, das soziale und sinnliche Vakuum, der Versuch, baulich ein Nichts herzustellen, das Leben aussaugt wie eine Pumpe den Brunnen. Den Mensch versiegeln, seine Sinne töten, die Lebenswelt entleeren, zuerst die äußere, um über sie an die innere heranzukommen, eine Hölle aus Einsamkeit zu schaffen, Sprache sinnlos machen, Denken zur Qual. Den Mensch einer unendlichen Erschöpfung auszusetzen, das ist nicht nur ihre Folge, das war bewußte und geplante Absicht.

Keiner von uns hat sie leicht durchgestanden. Keiner ohne Narben. Oft haben wir nicht gewußt, wie, und dann blieb uns doch nichts anderes übrig, als uns unsere Situation anzueignen, gegen sie zu kämpfen, sie aber trotzdem anzunehmen, sie leben zu lernen, unsere Erwartungen zu ändern und neue Kriterien zu entwickeln für das, was uns im Leben wirklich wichtig ist: Die Mauern zu anderen zu überwinden und daß es für eine Selbstsetzung keinen Ersatz gibt. Dieses Ziel und diese Erkenntnis, auf die jeder von uns immer wieder stieß, ist ein Gewinn. Gewonnen haben wir auch was. Das hebt die Last nicht auf, aber sie zerbricht dich nicht. Niemand hat das Recht, einen anderen innerlich zu zerbrechen und nach seinem Interesse neu zu konstruieren.

Bernd gehört zu denen von uns, die am längsten isoliert und alleine waren, die mit unendlicher Ausdauer für das Leben der Menschen von sich aus, für ihres und das ihrer GenossInnen gekämpft haben, und darum, der Herrschaft über die Menschen eine Grenze zu setzen. Sie haben ihm nicht nur den Angriff nicht verziehen, für den wir alle stehen. Sie haben ihm auch nicht verziehen, daß er wie wir auch in Haft noch eine Grenze für sie markiert, daß er trotz dieser 15 Jahre und unter diesen Bedingungen sich selbst gehalten hat. Die Zwei-Jahres-Sperrfrist, die gesetzlich höchstmögliche, die sie ihm daraufhin reingedrückt haben, spricht nur von der bodenlosen Wut auf den im Kern vor sich freigebliebenen Menschen. Er ist mit ihrem System unvereinbar. Dessen Vernutzungsprinzip von Leben hat die freie und volle Verfügbarkeit über den Menschen zur Bedingung. Nie wird es eine Befreiung haben, wenn die Selbstverfügung über das Leben im konkreten wie im gesellschaftlichen nicht zurückerobert wird. Helden brauchen wir keine, aber reale Menschen, die immer wieder neu zu sich zurückfinden, damit zur Grundlage, sich im anderen wiederzuerkennen, und die für den Kampf des Menschen um seine Eigengeltung im Konkreten wie auch im Allgemeinen Gesellschaftlichen aufbrechen.

Bernd hat einen unendlich langen Kampf hinter sich. Die tiefe Erschöpfung der Lebenskraft, die wir alle mehr oder weniger kennengelernt haben, die dieser Kampf ihm abverlangte, denunziert nur die Macht als völlig hemmungslos und ohne jeden eigenen inneren Wert. Sie hat nicht einmal das moralische Niveau einer Militärjunta wie in el Salvador, unter deren Herrschaft schwerkranke Gefangene ausreisen konnten. Hier eskaliert Machtanwendung aus sich heraus schnell ins Grenzenlose und damit gehört sie zu den schäbigsten auf dieser Welt. Ein Bürgertum, dem nie eine konkrete soziale Konstituierung gelang und das nur deren abstrakte und verdinglichte Form lebt.

Aber auch viele draußen sollten nicht ohne Scham sein — und sei es über die eigene Schwäche, die von der Fremdheit sich selbst gegenüber spricht. Die Grenze des Widerstandes ist unsere eigene Entfremdung. Erst wenn wir unsere Demütigung in der des anderen erkennen, haben wir ein Bewußtsein über die Verhältnisse und eine Ahnung über ihre Aufhebung gewonnen.

Bernd hätte schon längst draußen sein müssen, er, wie die anderen Haftunfähigen auch. Das ist für unseren Freund und Genossen jetzt endlich auch zu erkämpfen.

4.3.92, Karl-Heinz Dellwo, JVA Celle