Der Körper hat sein eigenes Sterben

Die Hirntod-Diagnostik ist trotz aufwendiger und kostspieliger Technologien keinesfalls so eindeutig, wie sie zu sein vorgibt/ Auch Chirurgen sind irritiert  ■ Von Hanna Rheinz

Jahrhundertelang galt der Herztod, mithin der Zeitpunkt, wenn Herz und Kreislauf versagen, als der Augenblick des Todes. Doch seitdem es Ärzten gelingt, durch die Technik der Defibrillation klinisch Tote ins Leben zurückzuholen, indem sie das Herz durch Elektroschocks wieder zum Schlagen bringen, seitdem Patienten bei Atemstillstand durch eine Herz-Lungen-Maschine beatmet werden, ist der Herztod keine Schranke mehr, die nicht überwunden werden könnte.

Die Entdeckung des Hirntods im Jahre 1968 ist eng mit der Transplantationsmedizin verknüpft und war eine interessengebundene Todeszeitdefinition. Die Explantation eines Spenderherzens wäre nicht möglich, wenn es nicht mehr schlagen würde, auch die Niere muß durchblutet und funktionsfähig sein. Das gleiche gilt für die Lungenflügel, die Leber, die Bauchspeicheldrüse, die Haut und die Hornhaut des Auges.

Die Angst der Angehörigen, den Sterbenden zu früh aufgegeben zu haben, es zugelassen zu haben, daß er bei lebendigem Leib zur Multi-Organentnahme zerstückelt wird, erzeugt Schuldgefühle. „Niemand kann die Angehörigen aus diesem Alptraum herausführen, weil keiner leugnen kann, daß die Angehörigen, die Mütter tatsächlich warme, lebende Körper zurückgelassen haben.“ So schildert Renate Greinert ihre Erfahrungen. Wird der Mensch zum Ersatzteillager, zum Recyclingobjekt, dem man bei „lebendigem Leibe das Herz aus der Brust reißt?“

Doch auch die Chirurgen sind irritiert, wenn der bereits für hirntot erklärte Patient auf die Organentnahme mit Pulsbeschleunigung und Anstieg des Blutdrucks reagiert, also sich ganz so verhält wie ein Patient in Narkose. Die Versicherung, daß es sich hier lediglich um vegetative Reize handele, keineswegs um eine Schmerzreaktion, räumt nicht alle Zweifel aus. Daß viele Ärzte angesichts der Diagnose Hirntod unsicher sind, spiegelt sich auch in einer Untersuchung an 65 Hirntoten des Münchener Klinikums Großhadern wider. Nur 14 wurden explantiert, obwohl eigentlich jeder zweite Patient, der auf einer neurologischen Intensivstation stirbt, potentiell für eine Explantation geeignet wäre. Viele Ärzte scheuen das Gespräch mit den Angehörigen.

Das Apallische und das Locked-in-Syndrom

Um die Diagnose „Hirntod“ zu stellen, muß ein irreversibler Ausfall aller Hirnfunktionen mit Zerstörung der Formatio reticularis, in der die Wachheit erzeugt wird, vorliegen, in dessen Verlauf es „zwangsläufig auch zum Eintreten des körperlichen Todes im Sinne eines kardinalen Todes kommt“, betont der Neurologe K.M. Einhäupl.

Lediglich das Ausmaß der Schädigung des Gehirns entscheidet darüber, ob der Reanimierte fortan wieder selbständig leben kann oder als Schwerstbehinderter lebenslanger Pflege bedarf. Eine Ausschlußdiagnose ist das „Apallische Syndrom“. Hier kommt es zu einem partiellen Ausfall der Hirnfunktionen. Die Durchblutung des Gehirns war bereits so lange reduziert, daß die empfindlichen Neuronen der Großhirnrinde zerstört sind. Alle kognitiven Leistungen sind daher erloschen, und der Patient erlangt kein Bewußtsein mehr, Funktionen, die über den Hirnstamm reguliert werden, wie reflektorisches Schlucken und Kauen, sind noch erhalten.

Beim „Locked-in-Syndrom“ dagegen ist der Hirnstamm zerstört, während der Cortex (Hirnrinde) funktionsfähig ist. „Diese bedauernswerten Patienten sind bei vollem Bewußtsein, sie sind wach, aber nicht kommunikationsfähig“, meint Einhäupl. Auch Patienten mit Barbituratvergiftungen liegen in tiefem Koma, ohne jedoch hirntot zu sein. Während Streckreflexe bei Hirntoten fehlen, zeigen sie noch Muskelzuckungen, die im Rückenmark erzeugt werden.

Um die Diagnose zu stellen, werden die Hirnnervenreflexe durch Eiswasserspülungen des Innenohres und Drehen des Kopfes geprüft. Während sich die Augen des Koma- Patienten wie bei einer Puppe immer nach oben drehen, bleiben sie beim Hirntoten unbeweglich in der Mittelposition. Obwohl eine Verengung der Pupillen als Reaktion auf einen Lichtreiz gilt und mit dem Tod nicht vereinbar ist, sind bei 20 Prozent der Hirntoten die Pupille weniger als fünf Millimeter eng. Die Körpertemperatur liegt bei fast 40 Prozent der Hirntoten noch bei 36,5 Grad und der Blutdruck bei immerhin 25 Prozent noch über 80 und höher.

Der Münchener Neurologe Heinz Angstwurm betonte, daß ein „Nullinien-EEG“ nicht nötig sei. „Es ist nicht entscheidend, daß jede Nervenzelle abgestorben ist, entscheidend ist, daß das, was noch an Aktivität abgeleitet werden kann, nicht ausreicht, um die Funktion des Organs ,Gehirn‘ aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen.“

Selbst wenn alle Hirntod-Kriterien erfüllt sind, wird, um Fehldiagnosen zu verhindern, eine Wartezeit bis zur Explantation empfohlen, die allerdings mit dem Interesse, frische und gut funktionierende Organe zu erhalten, kollidiert.

Ärzte und Kirchen mit erhobenem Zeigefinger

Bereits im Vorfeld als präwissenschaftlich abgeschmettert, die Neigung des Menschen, auf Wunder zu hoffen. Im Grenzbereich zwischen Leben und Tod wurde sie jahrhundertelang genährt durch medizinisch nicht vorhersehbare „Ausnahmefälle“, wenn längst Aufgegebene doch ihr Bewußtsein wiedererlangten. In vielen Ländern wie Japan oder Indien wird der Hirntod aus religiösen Gründen nicht akzeptiert. Transplantationen sind nur als Lebendspenden möglich.

Hierzulande besteht wenig Toleranz für den Wunsch, in Ruhe sterben und als Sterbender seine körperliche Integrität bewahren zu können. Im Gegenteil: Aus dem erhobenen Zeigefinger der Ärzte und Kirchen, dem Appell, zur Organspende verpflichtet zu sein, könnte demnächst sogar gesetzausgeübter Zwang werden, wenn die Transplantation zur „Notstandssituation“ erklärt wird und sich der Arzt über den Widerspruch des Betroffenen oder seiner Angehörigen hinwegsetzen kann. Deren Wunsch nach Sterbensqualität kann durch die Forderung, Leben zu verlängern, außer Kraft gesetzt werden. Und so wird nicht nur der Tod darauf reduziert, daß der letzte Chirurg, nachdem alle explantierbaren Organe entnommen sind, die Geräte abschaltet, sondern das Sterben selbst wird annulliert. Sogar Thanatologen und Psychosomatiker schweigen angesichts der hochgezüchteten Erwartungen. Vergessen scheint die Erkenntnis, daß der Begriff „Körperselbst“ ja nicht nur eine psychologische Metapher ist, sondern darauf hinweist, daß der Körper seine eigene Leidensgeschichte, sein eigenes Sterben hat.