Wie eine Metropole baut

■ Ausstellung in der Berlinischen Galerie über die Pariser Architekturprojekte

Die Stadt Paris zu durchwandern, ihr die Reize abzugewinnen, die sie für die Flaneure des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts so interessant gemacht haben, das fällt heute vielen schwer. Es ist modern geworden, über den angeblichen Verlust an Stadt und an Urbanität zu klagen — einer Urbanität allerdings, der viele als Mythos erlegen sind. Denn Paris ist wie jede weltstädtische Metropole den Veränderungen der Zeit unterworfen, ist, trotz aller großartigen Denkmale und erhaltenswerter Stadtstrukturen, auch der Zeit anzupassen.

Was wäre denn, wenn Monsieur Haussmann im 19. Jahrhundert nicht daran gegangen wäre, für die schnellen Truppenbewegungen innerhalb der Stadt große Schneisen durch die alten Viertel von Paris zu schlagen? Was, wenn nicht die Metro als modernes und technisches Verkehrsmittel gebaut worden wäre? Und was, wenn nicht die jeweiligen Herrscher des Königreichs und der Republik Frankreich ihren je eigenen Bauwillen und -wahn in der Hauptstadt Paris ausgetobt hätten? Paris — darin sind die Stimmen einig — wäre einige Erlebniswerte ärmer.

Daß man aber heutzutage daran geht, die Pompidous und Mitterrands ob ihres Bauwillens zu schmähen, ihnen ihre Lust an der Pracht diskutierend streitig machen zu wollen — das hat wohl eher mit dem Mißverhältnis zu tun, das sich beim Vergleich der Bauten und ihrer Kosten mit andren — und zwar meist sozialen — Unterlassungen herstellt. Frankreichs Kassen sind ebenso so leer wie die anderer Industriestaaten, und die sozialen Konflikte gären hier wie ebenso andernorts. Aber nirgendwo wird städtebaulich so geklotzt wie seit einigen Jahren in Paris.

Seit dem Abriß der Markthallen im Herzen der Stadt und der anschließenden Errichtung der Museumsmaschine Centre Georges Pompidou an dieser Stelle werden die Unkenrufe nicht leiser, die meinen, Paris gehe seiner Identität verlustig. Wer aber heute das moderne Paris durchwandert, muß feststellen, daß diese Stadt mitnichten durch einige bauliche Großprojekte kaputtzumachen ist.

Der unbefangen hinsehende Beobachter — als zeitgenössischer Flaneur mit dem Willen zur Unterscheidung begabt — ist vielmehr geneigt, die Qualität des neu Erbauten zu bewerten, als sogleich die Tatsache zu bemängeln, daß überhaupt gebaut wird. Denn Bauen schafft auch Raum für neue Nutzungen, neue Qualitäten des städtischen Lebens — und das scheint allemal notwendig.

Einen Überblick über die Grand Projets der letzten zehn und kommenden fünf Jahre kann man sich jetzt in der Berlinischen Galerie im Martin- Gropius-Bau verschaffen. Die Ausstellung führt 17 Gebäude, beziehungsweise Gebäudekomplexe, zum Teil auch noch erst im Planungsstadium begriffene Baustellen vor, die einen Einblick in die aktuelle Architekturentwicklung und -debatte ermöglichen. Vom Musée d'Orsay, dem Grand Louvre und dem Institut du Monde Arabe im Zentrum, über den Parc de la Vilette, die Cité de la Musique und der Opéra in den äußeren Arrondisments, bis hin zur Grande Arche in La Défense — der sichtbaren Verlängerung der Champs-Élysées — wird alles vorgeführt, was in Architektur — aber auch in weiten Bevölkerungskreisen in den letzten Jahren bis in unsere Tage hinein die Gemüter erhitzte.

Die gewaltige Konstruktion und fast feudale Geste des point de vue der Grande Arche ist der vorläufige Abschluß der Haussmannschen Idee der großen Achsen durch die Stadt. Als Tor weithin sichtbar, entpuppt sich der Bau, befindet man sich unter ihm auf der ebenso feudalen Plattform von La Défense, allerdings als reine Geste: als hilfloser Wille zur Demonstration einer längst im Autodunst verschwundenen Macht. Das — möchte man sagen — hat eine Demokratie doch heutzutage gar nicht mehr nötig. Und auch die technische Bewältigung einer solchen Bauaufgabe läßt einen nur noch die Achseln zucken: Wer auf den Mond fliegt, wird ja wohl auch noch das hinbekommen, wird es wohl noch schaffen, eine Gebäudeüberspannung zu konstruieren, unter der die Kirche Notre Dame de Paris locker eingestellt werden kann.

Interessant und mitunter sehr aufregend sind aber die wirklichen Neuerungen des architektonischen Ausdrucks, wozu zweifellos das Institut du Monde Arabe der Architektengemeinschaft um Jean Nouvel gehört. An der Seine, gegenüber der Ile St. Louis gelegen, steht es so erhaben, mit einer so schlichten Eleganz, daß man sich fragt, warum denn nicht alle Architektur — mit dieser baulichen und städtebaulichen Raffinesse und der technischen Durcharbeitung —, warum nicht alle Architektur so auftreten kann: modern — aber nicht modisch, neu — aber nicht vorlaut, kühl kalkuliert — aber niemals kalt.

Gerade an diesem Institut zeigt sich die für Frankeich derzeit so typische Verbindung einer klassischen Haltung zur Architektur (die Moderne seit 1870 meinend) mit den neuesten technischen Errungenschaften. Der Ausstattungsgrad des Gebäudes ist eben nicht mehr nur in den Maschinen- und Kellerräumen verborgen, sondern zeigt sich schon in der Fassade und beim Eintritt in das mächtige, über alle Geschosse reichende Fahrstuhl-Foyer und wird gleichsam als Bestandteil der Architektur vorgeführt.

Diese Eingriffe sind aber selten aufdringlich, sie wirken selbstverständlich und notwendig dort, wo sie eingesetzt und zu sehen sind. Der zusätzliche Effekt des überraschenden ästhetischen Reizes macht das Ganze nur noch Erhabener.

Das Gebäude der Cité de la Musique ist von ebensolcher Raffinesse und gekonnter Geste. Am Rande des unsäglich kitschigen, unnötigen und einer rein intellektuellen Idee verpflichteten Parc de La Villette stehend, kontrastiert es auf angenehmeste Weise mit den auf der gegenüberliegenden Straßenseite gelegenen alten Pariser Mietshäusern. Eine moderne und bisweilen beunruhigende Interpretation der Spannung, die in den zwanziger Jahren mit dem Begriffspaar Funktion und Inhalt (»Form follows Function«) umschrieben wurde. Man wünscht sich sofort die Scharfeinstellung der Optik der in Berlin für das Bauen verantwortlichen Senatoren, damit sie sich im Zweifelsfalle für derartige Lösungen von Bauaufgaben entscheiden mögen — sofern die Architekten bereit und in der Lage sind, derartige Qualität zu liefern. Und zu dieser Scharfeinstellung — wenn wir schon einmal beim Wünschen sind — hätten wir gern noch das Portiönchen Mut, das dazu gehört, einmal von der Berliner Mietshaustypologie abzusehen, um gute und exponierte Architektur entstehen zu lassen.

Was sich bei den ausgestellten Projekten aber auch zeigt, ist, daß sich die gigantischen Glas- und Eisenbauten des vergangenen Jahrhunderts vorzüglich für kulturelle Umnutzungen eignen: Sei es die große, alte, zum Schlachthofgebäude gehörende Grande Halle im Parc de La Villette, die in ein multifunktionales Zentrum für Konferenzen und Ausstellungen umgebaut wurde, oder der ehemalige Bahnhof am Quai d'Orsay, in dem heute die Gemälde- und Kunstsammlungen des Neunzehnten Jahrhunderts untergebracht sind.

Was die architektonischen Qualitäten und den Mut für außergewöhnliche städtebauliche Lösungen betrifft, ist Frankreich unbedingt als Vorreiter zu nennen — auch wenn es mitunter, wie beim Finanzministerium, bei der monumentalen Geste bleibt. Wie ein aufwendiger Werbeprospekt ist denn auch die Ausstellung im Martin- Gropius-Bau angelegt: kurze Texte mit den nötigsten Informationen, Großfotos der Objekte von innen und außen und eine große Anzahl von Modellen illustrieren das Gebaute und Geplante. Es soll für sich sprechen. Paris wird zwar an vielen Stellen umgebaut, es werden für dieses Neue kleinere Quartiere abgerissen, ergänzt und umstrukturiert. Schaden allerdings — den erleidet die Meteropole Paris auf diese Weise nicht. Martin Kieren

Paris — Die großen Architekturprojekte , Berlinische Galerie im Martin-Gropius-Bau. Bis 26. Juni täglich von 10 bis 20 Uhr, Mo. geschlossen.

Katalogbuch von Paulhans Peters, 151 Seiten mit vielen farbigen Abbildungen, identisch mit den ausgestellten Projekten, im Verlag Ernst und Sohn, 40 Mark.