Ohne Restsüße

■ Elke Heidenreichs bittere Liebesgeschichten

So einfach kann man es sich machen: Man wählt sich einen der ältesten und gewichtigsten Stoffe der Literatur zum Thema, stapft entschlossen und festen Schrittes schon im Titel darauf zu und hat im folgenden nur noch darauf zu achten, den einmal eingeschlagenen Pfad nicht wieder zu verlassen. Ein Patentrezept. Man muß es nur anwenden können. Denn so einfach kann man es sich nur machen, wenn man's auch wirklich kann.

Elke Heidenreich nennt ihren Erzählband Kolonien der Liebe, und die erste der neun Geschichten heißt schlicht Die Liebe. Knapper geht's nicht. Umstände, so scheint uns die Autorin versprechen zu wollen, werden nicht gemacht. Und tatsächlich lernen wir schon im ersten Satz der Erzählung Sonjas ersten Freund Hansi kennen, auf Seite drei folgt ein gewisses Rölfchen, und nur eine Seite weiter wissen wir bereits, daß Sonja die Suche nach der Liebe nicht ohne eine gewisse Ausdauer betreibt. Denn hier ist die Ich-Erzählerin auf ihrer „Kußliste“ schon bei Nummer 36 angelangt.

Sonjas Suche ist rastlos, weil sie das Ziel nicht kennt. „In meiner ganzen Familie“, so klagt sie, „gab es nicht eine einzige richtige Ehe.“ Auch Bücher zum Thema bleiben im Ungefähren, und allenfalls Rhett Butler und Scarlett O'Hara scheinen von der Sache einiges zu verstehen. Auf die Frage „Was willst du denn mal werden?“, antwortet Sonja in einer Mischung aus Trotz und Aufrichtigkeit „Waisenkind“. Und am zweitliebsten, so verrät sie dem Leser, wäre sie tot. Die Liebe wird dieser Fünfzehnjährigen zur Chiffre für ein anderes Leben, das sich weit weg in unbekannten Gefilden und fernen Kolonien abspielt. Dort muß das Leben schön sein, hier bleiben nur unbestimmte Sehnsucht und ewiger Trotz der Unverstandenen.

Auch in den beiden folgenden Erzählungen bleibt Elke Heidenreich ihrem Programm treu. Ihr Stil ist sicher und genau, die Charaktere werden rasch und fest umrissen, die Vorliebe für gut gesetzte Pointen offenbart neben der Schulung an der amerikanischen Short story auch die journalistische Handschrift der knapp Fünfzigjährigen, die seit über zwanzig Jahren als freie Autorin und Moderatorin für Funk und Fernsehen tätig ist. Ein Theaterstück, ein Film, Serien, Hör- und Fernsehspiele stammen aus ihrer Feder. Elf Jahre lang kommentierte sie als Metzgersgattin Else Stratmann im Hörfunk die neue Frisur der Nachbarin ebenso wie die politischen Weltläufe. Und seit einiger Zeit verhilft ihr die Moderation einer Fernseh- Talkshow zu weiterer Popularität.

Daß Elke Heidenreich keine Anfängerin ist, ist in ihren Erzählungen deutlich zu spüren. Milieuschilderungen und Perspektivwechsel, Charakterzeichnungen und Dialoge werden routiniert gehandhabt. Die Autorin vertraut bewährten Mitteln, und ihrem Patentrezept hält sie den Band über die Treue. Aber es zeigt sich, daß die Methode dem Gegenstand nicht angemessen ist. Denn die kürzeste Verbindung zwischen zwei Menschen ist oft keineswegs die Gerade, mancher Umweg mag sich auch der Raffinesse und dem Lustprinzip verdanken. In Elke Heidenreichs Erzählungen von der Liebe sind unerwartete Wendungen hingegen nicht zu befürchten. Vor Überraschungen ist der Leser sicherer, als der Liebende es sich wünschen kann.

Obwohl nicht alle Erzählungen in diesem Band zu überzeugen vermögen, fügen sie sich auf eigentümliche Weise zu einem Ganzen. Die Autorin hat offenbar eine Art Typologie der Liebe im Sinn gehabt. Ein Mädchen sucht die Liebe, ein anderes berichtet vom Ehekrach der Eltern. Ein Scriptgirl wird Zeugin einer leidenschaftlichen Begegnung zweier Schauspieler. Eine nicht mehr ganz junge Frau betäubt sich nach ihrer gescheiterten Ehe und dem Tod ihres Vaters mit Arbeit. Eine ältere Dame vergafft sich in einen jugendlichen Beau. Eine Ehefrau geht an der unbedingten Liebe zu ihrem Mann zugrunde. Die Protagonistinnen — es gibt keine männliche Hauptfigur— erleben die Liebe auf verschiedene Weise. Aber es ist eine Typologie ex negativo. Elke Heidenreich beschreibt nicht Spielarten der Liebe, sondern die verschiedenen Erscheinungsformen ihrer Abwesenheit. Nicht vom Umgang mit der Liebe wird hier erzählt, sondern von verschiedenen Arten, mit ihrem Fehlen fertigzuwerden. In diesen Liebesgeschichten hat das Liebesleid jegliche Restsüße verloren. Die Kolonien der Liebe, von denen der Titel spricht, müssen Strafkolonien sein. Einzelhaft ist hier obligatorisch.

In der ersten Erzählung berichtet die junge Sonja von ihrer erfolglosen Lektüre: „Ich las alle Bücher, in denen etwas mit Liebe vorkam, besonders aufmerksam, aber es war kein System zu erkennen, wie Liebe denn nun funktionierte.“ Kein Wunder, denn die Liebe funktioniert auch ohne System nicht. Das ist die Nachricht, die Elke Heidenreich uns aus ihren einsamen Kolonien übermittelt. Hubert Spiegel

Elke Heidenreich: Kolonien der Liebe. Erzählungen. Rowohlt Verlag, 175 Seiten, geb. 28 Mark.