RECHTSLAGEN
: Die Wende im Mielke-Prozeß

■ Der Angeklagte wird durch neue Dokumente schwer belastet, vielleicht aber muß er dennoch freigesprochen werden

Fast schien es so, als müßte das aktuelle, höchst umstrittene Strafverfahren gegen Erich Mielke in Kürze eingestellt werden. Das wäre keine Niederlage des Gerichts, kein Freispruch für den Angeklagten gewesen: Vielmehr hätten die Tatrichter der 23. Großen Strafkammer damit einfach dem Umstand Rechnung getragen, daß ein schweigender Angeklagter nach dem Tod aller unmittelbar am Tatgeschehen Beteiligten nicht überführt werden kann und daß die in den Jahren 1933/34 erfolterten Aussagen aus rechtlichen Gründen unverwertbar sind. Die Frage, ob Erich Mielke einer der beiden Schützen war, die die Polizeioffiziere Franz Lenck und Paul Anlauf am Abend des 9.August auf dem Berliner Bülowplatz erschossen, wäre zunächst ungeklärt geblieben und von den Juristen an die Historiker überwiesen worden. So unbefriedigend ein solches Ergebnis sein mag: Ein rechtsstaatliches Verfahren kann und muß unter Umständen so enden.

Die Dokumente, die wir aus dem Moskauer Komintern-Archiv herbeigeschafft und veröffentlicht hatten, waren zwar frei vom Makel der Nazi-Justiz, sie lieferten zunehmend dichtere Indizien für die Mittäterschaft Mielkes, doch fehlte ein Dokument, das eine Beteiligung Mielkes schwarz auf weiß bewies. Es wurde zurückgehalten. Seit vorgestern jedoch liegt eine solche Urkunde vor: Ein handgeschriebener Lebenslauf aus dem Jahr 1932, in dem Mielke die Tat mit fast den gleichen Worten wie sein Tatgenosse Erich Ziemer bekannte: „Meine letzte Arbeit für die Gruppe war die Bülowplatzsache, die ein anderer Genosse und ich zusammen ausführten.“ Gefunden wurde dieses Schuldbekenntnis des Angeklagten erwartungsgemäß in Moskau; den russischen Behörden abgetrotzt hat es — wir gratulieren — schließlich Jochen von Lang.

Erich Mielke war einer der Meuchelmörder

Wie vermutet, hat Erich Mielke in seinen gelegentlichen Einlassungen der letzten Wochen das Blaue vom Himmel gelogen. Die ganze Verhandlung sei „Lug und Trug“, hatte er vor Gericht gesagt und wenig später der Reporterin der 'Berliner Zeitung‘ erklärt: Ja, er sei zur fraglichen Zeit auf dem Bülowplatz gewesen, „aber nicht mit dem Auftrag, Leute zu erschießen“. „Wer geschossen hat, kann ich nicht sagen, ich bin abgehauen, um nicht selbst abgeknallt zu werden. Meine Partei war keine terroristische Vereinigung, da kann man heute erzählen, was man will. Niemals wurde ich zu terroristischen Sachen verpflichtet. Es handelte sich auf dem Bülowplatz um eine Provokation der Hitlerbanditen, um die Partei verbieten zu können. So ging es doch auch beim Reichstagsbrand.“

Seit vorgestern ist eindeutig klar und mit rechtlich verwertbaren Mitteln beweisbar: Mielke hat geschossen, aus einem Meter Entfernung und von hinten. Er betrachtete den Mord als „Arbeit“ für den Parteiselbstschutz (PSS) der KPD. Er war stolz darauf. Die entsprechenden Beweismittel fanden nicht die eigentlich zuständigen Staatsanwälte — über deren Arbeitsethos sich einiges sagen ließe — vielmehr waren es Journalisten, die den Anklägern und Richtern aus der Klemme halfen. Allerdings taten sie das nur, weil das Gericht das Verfahren mit allen Risiken eröffnet und über die scharfen Klippen der ersten Verhandlungstage laviert und die Bülowplatz- Morde damit ins öffentliche Interesse zurückgerufen hatte.

Ursprünglich waren Staatsanwaltschaft und Gericht, aber auch einige Kommentatoren, davon ausgegangen, die Mielke erheblich belastenden Aussagen aus den Jahren 1933/34 könnten als Beweismittel in den Prozeß einfließen. Die Richter hingen der Fiktion nach, sie könnten eine rechtlich vertretbare Grenze zwischen den damaligen Ermittlungen der SA, der politischen Polizei (später: Gestapo) und der zunächst für rechtsstaatlich clean erachteten Berliner Kriminalpolizei ziehen. Diese Unterscheidung entsprach der damaligen Realität nazistischer und polizeilicher Kommunistenjagd in keiner Weise. Sie scheiterte schließlich an den umfangreichen Dokumentationen der „taz“ und den entsprechenden Anträgen der Verteidigung. Nach mehr als einem Dutzend Verhandlungstagen beschloß die Kammer, auf alle in der Nazizeit gewonnenen Aussagen zu verzichten — nicht aus sachlichen, sondern aus rechtlichen Gründen. Aber, und das gilt es zu respektieren: Das Gericht faßte diesen Beschluß zu einem Zeitpunkt, als es nicht davon ausgehen konnte, je in den Besitz wirklich zwingender zusätzlicher Beweisurkunden zu gelangen.

Rechtqualität des Haftbefehls fragwürdig

Auch wenn Erich Mielke seine Tatbeteiligung jetzt nachgewiesen werden kann, sind die juristischen Fragen noch nicht erledigt, steht seine Verurteilung nicht fest. Er hat Anspruch auf ein in allen Details rechtsstaatliches Verfahren. Und da eine Verurteilung angesichts seines Alters mit hoher Wahrscheinlichkeit von anderen Instanzen nicht mehr revidiert werden kann, sollten die Maßstäbe besonders streng sein.

Verteidigung und Gericht werden auf die Frage zurückkommen müssen, ob der Haftbefehl, den das Amtsgericht Berlin-Mitte am 23.April 1933 gegen Mielke ausstellte, rechtsstaatlichen Anforderungen genügt. Tut er es nicht, dann ist die Tat verjährt, dann muß das Verfahren, trotz aller neuen Beweismittel, eingestellt werden — wobei Mielke auch in einem Einstellungsbeschluß als Mörder qualifiziert werden könnte. Erlassen wurde der Haftbefehl seinerzeit aufgrund der Aussagen von Max Thunert und Max Matern, die vier Wochen zuvor von dem SA-Sturm 102 festgenommen worden waren. Geführt wurde diese Terror- und Foltertruppe von dem SA-Scharführer und Hilfspolizist Albrecht Kubick. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wurden Thunert und Matern tagelang bestialisch gefoltert und eben dashalb hat es das Gericht bereits abgelehnt, ihre Aussagen gegen Mielke zu verlesen. Wenn diese Beweismittel aber dem Verwertungsverbot unterliegen, weil sie unter Verstoß gegen grundlegende Rechtsnormen gewonnen wurden, dann können sie schlechterdings keinen rechtlich haltbaren Haftbefehl begründen. Traditionell ist das deutsche Recht an diesem Punkt eher lax, es schränkt die sogenannte „Fernwirkung“ von Form- und Regelverletzungen im Strafverfahren ein. Aber die Rechtssprechung beginnt zu wanken. Nach US-amerikanischem Recht wäre das Mielke-Verfahren jedenfalls längst — und genau an diesem Punkt — geplatzt.

Wie gravierend die Rechtsverstöße waren, die sich Kubick bei seinen Ermittlungen und Festnahmen in der „Mordsache Lenck/Anlauf“ zu Schulden kommen ließ, war der Moabiter Justiz bereits 1934 bekannt, waren aber zwischenzeitlich in den deutschen Archiven verschwunden und wurden von uns erst in diesen Tagen wieder entdeckt. Im Oktober 1934 vermerkte die Berliner Generalstaatsanwaltschaft, daß Kubick, der schon „aus anderen Sachen bekannt sei“, selbst gefangene Frauen „schwer mißhandelt“ und mit ihnen „geradezu Allotria getrieben“ habe. Dabei hatte er auch „Schmucksachen und dergleichen“ beiseite geschafft. Am 21. August 1934 wurde Kubick von der Gestapo „hinsichtlich seiner Tätigkeit bei der Abteilung Ie“ der Berliner Polizei im Jahre 1933 vernommen. Es ging darum, daß sich Kubick die Harley- Davidsohn des in der Bülowplatz- Verfahren beschuldigten, aber entkommenen Wilhelm Peschky unter den Nagel gerissen, „als sein Eigentum betrachtet“ hatte, wie er sich ausdrückte.

Aussagen beruhten auf Folter

1948 schilderte Wilhelm Krug vor der Berliner Kriminalpolizei, wie er im September 1933 von einem Kriminalassistenten Pohlenz, der bei der Berliner Kripo angestellt war, verhaftet und anschließend im KZ Columbiahaus von Kubick vernommen wurde. Diese Aussage zeigt sehr deutlich und realitätsnah, wie die Grundlagen des Haftbefehls gegen Mielke im April 1933, als die SA noch unkontrollierter wütete als im September des gleichen Jahres, geschaffen wurden. Krug berichtete: „Ich wurde nun mittels PKW zur Prinz-Albrecht-Straße transportiert und in einem Zimmer des zweiten Stockwerks längere Zeit befragt — nach 15 Genossen, welche ich zwar zum Teil kannte, was ich aber bestritt. Dabei wurde ich von Pohlenz (also dem Polizeibeamten, d. Red.) dermaßen in rohester Weise mit den Fäusten ins Gesicht geschlagen und wenn ich zu Boden sackte mit den Füßen getreten. Mir wurde das Nasenbein gebrochen und ich hatte auch noch an anderen Stellen des Kopfes wie an der Kniescheibe blutige Verletzungen. Ich mußte dann mein Gesicht reinigen und wurde durch die beiden genannten Beamten zum Columbiahaus nach Tempelhof gebracht. Hier wurde ich zunächst mit zwei Leidensgefährten in eine Zelle gesperrt und durch einen gewissen Kubick vernommen. Auch Pohlenz war zugegen. Von Kubick wurde ich mittels eines langen Gummiknüppels mißhandelt, weil ich keine Genossen verraten wollte. Ich bin an diesem Tage im Keller des Columbiahauses mit Lederpeitschen zweimal geschlagen worden, im Auftrag von Kubick durch ein Sonderkommando. Die Folterungen waren so ungeheuerlich, daß ich nachmittags vor Verzweiflung einen Selbstmordversuch unternahm, indem ich mir mittels einer Glasscherbe die Pulsadern beider Arme aufschnitt.“

Notwendiger Freispruch für den Mörder?

Wer heute das Problem der Verjährung im Fall „Mielke“ mit Hilfe des Haftbefehls von 1933 umschifft, der stützt sich auf solche Folterpraktiken. Und noch eines spricht dagegen, von einem rechtsgültigen Haftbefehl auszugehen: Am 15. Oktober 1937 verzichtete der deutsche Staat auf die strafrechtliche Verfolgung Mielkes. Damals setzte die Gestapo den Gesuchten — wenn auch irrtümlich — auf eine makabre Sonderliste: Es war die Liste „der in der Sowjetunion verhafteten Reichsdeutschen, welche auf Grund ihrer kommunistischen und staatsfeindlichen Betätigung im In- und Auslande zur Ausbürgerung vorgeschlagen werden“ und „deren Rückkehr nicht erwünscht ist“. Offenbar machte die Gestapo diese deutschen Kommunisten deshalb zu Staatenlosen, um der stalinschen GPU das Mordgeschäft jenseits möglicher diplomatischer Verwicklungen zu erleichtern. Über „Mielke, Erich“ heißt es in dieser Liste klar und richtig: „Ist an der Erschießung der Polizeihauptleute Anlauf und Lenck beteiligt gewesen.“

Man darf Erich Mielke wohl inzwischen als das bezeichnen, was er ist — als Mörder. Aber auch Mörder müssen freigesprochen werden, wenn es die rechtsstaatlichen Verfahrensgarantien nicht anders erlauben. Götz Aly