Illustration von Elend

Andrea Breth inszeniert „Nachtasyl“ in der Berliner Schaubühne  ■ Von Esther Slevogt

Nachtasyl in Berlin. Die Pritschen des Häufchens Elender, mit deren Unglück das Ehepaar Kostylev sein Geschäft macht, stehen diesmal in einem stillgelegten U-Bahn-Schacht, den Gisbert Jäkel für Andrea Breths Inszenierung des Gorki-Stücks an der Berliner Schaubühne gebaut hat. Von Zeit zu Zeit hört man weit oben einen Zug fahren, und manchmal rieselt dann ein bißchen Putz herab auf die Gestrandeten, die hier hausen. Klesc zum Beispiel, ein ehemaliger Schlosser und seine sterbende Frau Anna. Satin, ein philosophierender Falschspieler und ein heruntergekommener Baron. Ein versoffener Schauspieler und die Prostituierte Nastja, die sich über ihr gescheitertes Leben mit Liebesromanen tröstet.

Gorki selbst hat sein berühmtestes Stück, das Stanislawski vor neunzig Jahren in Moskau uraufführte, später nicht mehr gemocht. „Nichts als Worte. Feuilleton über den Humanismus“, ließ er eine Romanfigur dreißig Jahre später darüber höhnen. Gorki war längst zum ersten Staatsdichter der jungen Sowjetunion avanciert war. Stalin persönlich trug nach seinem Tod 1936 Gorkis Urne an die Moskauer Kremlmauer, und bis heute weiß man nicht, ob nicht ein Mörder da sein Opfer begrub. Doch die Sowjetunion ist tot, und in Berlin ist Rußland überall und nirgends. Ein Ort, irgendwo in der Wirklichkeit, der doch fern von jeder Wirklichkeit ist: ein Theater nämlich.

Viele dieser Worte, die Gorki an seinem Lebensende so überflüssig schienen, weil ihm der „bis zum Anarchismus erwärmte Humanismus“ seines Stückes unzeitgemäß schien, sind in der Berliner Fassung des Textes gestrichen. Andere Lieder, schärfere Töne. Die Verzweiflung ist abgründiger, der Trost ist trostloser geworden. Luka, Gorkis falscher Messias, hier ist er ein freundlicher Wanderer (Traugott Buhre, eine Spur zu gemütlich). Wie Gift pflanzt er ein bißchen Hoffnung in die Herzen der Menschen ein, von der nichts bleibt, als er wieder gegangen ist.

Andrea Breth gräbt in ihrer Inszenierung von Nachtasyl (nach Die Letzten 1989 in Bochum ihre zweite Gorki-Arbeit) mit der ihr eigenen Beharrlichkeit nach den verschütteten Seelen in den Menschenruinen. Nach ihren Sehnsüchten und Monströsitäten gleichermaßen. Dabei gelingen in der Berliner Aufführung Menschenbilder von stupender Kraft: Katharina Tüschens Nastja — kein junges Mädchen wie bei Gorki, sondern eine verblühte Frau, die wie Litaneien immer wieder aus den Liebesromanen vorliest, zitiert und erzählt. Ihr Ersatz für ein ungelebtes Leben. Peter Simonischek, als verfetteter Kostylev, der in Zuhältermanier mit Seidenanzug und Kampfhund — später wird dieser Hund, ein bißchen sehr frei nach Gorki, die Beine der Kostylev-Schwägerin Natasa (Caroline Loebinger) zerfleischen — sein Revier abschreitet. Daß hinter der brutalen Demonstration von Kraft nur ein Schwächling stecken kann, wird spätestens klar, als Sven Walsers zierlicher Vaskja Pepel den Koloß wie ein Floh anspringt und im Nu erlegt. Hans Christian Rudolphs trauriger Trinker (ein bißchen zu trocken für meinen Geschmack) und Michael Königs Satin, der ebenso donnernd rotzen und rülpsen wie philosophieren kann. Hans Diehls als Bubnow, den das Elend so abgestumpft hat, daß ihn das Mitgefühl, welches er beim Tod der schwindsüchtigen Anna plötzlich empfindet, so hilflos macht und er einen Blumenstrauß nicht an den Witwer zu bringen weiß. Corinna Kirchhoff schließlich, die Vasilisa spielt, mit ausgestopftem Busen und Popo. Eine böse Hexe mit Vorstadtsexappeal; sie mißhandelt ihre Schwester und will ihren Mann ermorden lassen. Auch diese harte Seele hätte einen weichen Kern, wären die Verhältnisse anders. Doch da die Welt nun mal ist, wie sie ist, bleibt Vasilisa zur Bestie verurteilt. Das Schicksal ist Naturgesetz und das Unglück ohne Ausweg. Am Ende schließt ein Gitter die Elenden in ihr Weltgefängnis ein, die sich langsam erheben. Das Stück ist aus.

Doch das Theater bleibt für sich. Denn das Bild findet zu seinem Original keinen Weg. So läßt die ganze Kunst uns kalt. Man kann doch das Elend nicht wie ein Birkenwäldchen auf die Bühne stellen. Soll man vielleicht Mitleid fühlen? Aber selbst wenn Günter Zschäkel mit Filzbart, Hut und Mantel haargenau dem unbekannten Penner vom Bahnhof Zoo gleicht, er bleibt ein Schauspieler, der einen Penner spielt. Und das macht die Situation absurd, wenn ihr nichts folgt als nur die Liebe zum Detail.

Im Programmheft Photos von Obdachlosen, die Abisag Tüllmann gemacht hat. Darunter auch zwei Bilder einer Pennerin, die — zwischen Müllsäcken mit Habseligkeiten verschanzt — zu den Wahrzeichen des Kurfürstendamms gehört. Mindestens zweimal pro Spielzeit erscheint sie zur Illustration bürgerlicher Vorstellungen vom Elend in Programmheften Berliner Theater. Hat ihr einer, der sich ihres Konterfeis zur Werbung für die eigenen guten Absichten bedient, je ein Gage bezahlt?

Maxim Gorki: Nachtasyl. Inszenierung: Andrea Breth, Bühne: Gisbert Jäkel, Kostüme: Jorge Jara, mit Peter Simonischek, Corinna Kirchhoff, Elke Petri, Katharina Tüschen, Hans Christian Rudolph, Traugott Buhre, Michael König u.a., Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin. Weitere Vorstellungen am 26. und 27.6.