Gastkommentar: Verfassungsgebote statt Denkverbote

■ Wir stehen vor dem Beginn einer neuen Epoche internationaler Politik

Verfassungsgebote statt Denkverbote Wir stehen vor dem Beginn einer neuen Epoche internationaler Politik

Egon Bahr hat recht, es ist Wahnsinn, wie in der Bundesregierung mit Säbeln gerasselt wird, die anderen gehören. Klaus Kinkel, der sich auf die Zehenspitzen gestellt hat und wilhelminische Größe erreicht, um „Serbien in die Knie zu zwingen“ (Originalton Kinkel, nicht Wilhelm II.), kann den Säbel nicht ziehen. Die Bundeswehr ist gemäß Verfassung auf die Verteidigung beschränkt. Humanitäre Einsätze sind eine vernünftige Praxis. Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Aber mit den humanitären Einsätzen in Kambodscha und Sarajevo ist eine Grenze erreicht. Wer sie überschreitet, um sich an militärischen Aktionen out of areas zu beteiligen, überschreitet die Grenze zum Verfassungsbruch. Beim Einsatz der Bundeswehr darf es keine verfassungsrechtlichen Grauzonen geben. Die SPD ist bereit, vor dem Bundesverfassungsgericht für Klarheit zu sorgen.

Klar ist auch die gegenwärtige Position der SPD: Auf dem Bremer Parteitag haben wir uns für Einsätze einzelner Bundeswehreinheiten im Rahmen friedenserhaltender Missionen unter dem Blauhelm der UNO entschieden. Der entsprechende Antrag zur Änderung des Grundgesetzes ist vor 14 Tagen im Bundestag eingebracht worden. Jetzt spricht sich die außenpolitische Kommission der SPD auch dafür aus, bei einem UNO-Mandat Blauhelme im Rahmen der KSZE zu ermöglichen. Der Vorschlag ist vernünftig. Ein ergänzender Parteitagsbeschluß und Grundgesetzantrag wäre nötig. Was der Parteitag beschlossen hat und was die Fraktion umsetzen darf, ist eine Sache. Eine andere ist, worüber in der SPD diskutiert werden darf und muß, um gegebenenfalls neue Parteitagsbeschlüsse zu fassen. Da gibt es keine Denkverbote. Wer verhindern will, daß die letzte verbleibende Supermacht USA, die Nato oder die WEU den Weltpolizisten oder gar Halbweltpolizisten spielen, muß bereit sein, die Verantwortung der UNO und des Sicherheitsrates für die Weltinnenpolitik zu stärken. Ob die UNO sich zu einer Weltregierung entwickeln kann, steht noch in den Sternen. Aber die Horoskope sind nicht ungünstig. Wenn die UNO Truppenteile ihrer Mitgliedsstaaten der politischen und militärischen Verantwortung des Sicherheitsrates unterstellt, beginnt eine neue Epoche der internationalen Politik.

Wer eine Wiederholung des „Golfmodells“ verhindern will, der muß für diese epochale Herausforderung offen sein. Die von Butros Ghali vorgeschlagene Aktivierung des Kapitels VII der UNO- Charta verlangt Verhandlungen mit den Mitgliedsstaaten und Verträge, die „nach Maßgabe des nationalen Verfassungsrechts ratifiziert“ werden müssen. Für die Bundesrepublik wäre dazu eine weitere Verfassungsänderung erforderlich. Es ist gut, daß die Friedensforschungsinstitute darüber eine kritische Diskussion mit sich selbst und mit der Öffentlichkeit begonnen haben. Es gibt Verfassungsgebote, aber keine Denkverbote. Die Verfassung gilt, solange sie nicht geändert wird. Norbert Gansel

SPD-Fraktionsmitglied und Vorsitzender des Arbeitskreises für Außen- und Sicherheitspolitik, Europa- und Entwicklungspolitik