Rußland — das Land, in dem zu viele Rubel rollen

Manager und Finanzexperten aus der Bundesrepublik stellen in Rußland als erstes fest, daß ihnen ihr Marktwirtschaftswissen nur wenig nützt/ In der vergangenen Woche hat der Rubel erneut 20 Prozent gegenüber dem Dollar verloren: Ursache ist das fehlende Vertrauen in die Reformen  ■ Von Donata Riedel

Moskau/Berlin (taz) — Die Moskauer Repräsentantin eines Großkonzerns hält sich, wie die meisten Vertreter deutscher Unternehmen in Rußland, mit Empfehlungen auffällig zurück: „Die Realität ist so zutiefst anders, daß ich mich scheue, hier Ratschläge zu geben.“ Zutiefst anders stellt sich vor allem das russische Finanzsystem dar. Zwar gibt es ein zweistufiges Bankensystem wie im Westen, mit Zentralbank und Geschäftsbanken. Doch bereits bei der Definition der Aufgaben dieser Institutionen enden die Gemeinsamkeiten.

Die Konten der Kombinate werden nach wie vor von der Zentralbank verwaltet. Durchgängig gilt: Einnahmen und Ausgaben werden nicht ins Verhältnis zueinander gesetzt. Wer also in Rußland ein Firmenkonto eröffnet, gibt damit gleichzeitig die Verfügungsgewalt über sein Kapital ab. „Schon wenn wir den Firmenwagen reparieren lassen müssen und dafür Geld abheben wollen, verlangt die Bank eine Quittung der Werkstatt“, sagt die Firmenrepräsentantin. Auch wenn das Unternehmen die Gehälter der russischen Angestellten monatlich an die Inflationsrate anpassen will, verlangt die Bank eine detaillierte Begründung.

Zahlenroulette

Die Inflationsrate ist hoch; wie hoch genau, weiß allerdings niemand. Experten des Internationalen Währungsfonds (IWF) haben für den Monat Juli 20 Prozent ausgerechnet, die russische Regierung sechs Prozent. Einen definierten Warenkorb, aus dem die Preissteigerungsrate errechnet wird, gibt es nicht. Bundesdeutsche Finanzexperten halten die IWF- Zahl für zu hoch gegriffen, weil bei einer Monatsinflationsrate von 20 Prozent am Ende eine Jahresrate von 4.000 Prozent herauskäme — trotz russischer Hyperinflation erscheint westdeutschen Beobachtern das dann doch zuviel. „Letztlich haben aber auch wir nur Anhaltspunkte“, sagt ein Beobachter.

Der Wirtschaftsberater der russischen Regierung, Aleksej Uljanow, hat nun am Donnerstag eine neue, sowohl konkrete als auch runde Zahl genannt: Die Jahresinflationsrate werde 1993 100 Prozent betragen, im Monat ungefähr sieben Prozent. Wie er auf diese Zahl gekommen ist, wird sein Geheimnis bleiben. Sie hat allerdings den entscheidenden Vorteil, daß sie die Zielgröße des IWF (nicht mehr als 10 Prozent im Monat) deutlich unterschreitet. Das ist auch notwendig, denn seit gestern abend verhandeln die Finanzstaatssekretäre der sieben reichsten westlichen Gläubigerländer in Paris über jene Schuldenerleichterungen für Rußland, die sie auf dem Münchner G-7- Gipfel zugesagt hatten — unter der Bedingung, daß sich Rußland an das mit dem IWF ausgehandelte Programm hält.

Wie dieses Programm im Detail aussieht, wann was umgesetzt wird — darüber hat Moskaus Bevölkerung keinerlei Anhaltspunkte. Was Fernsehen oder Zeitungen über neue Wirtschaftsvorhaben berichten, ist bestenfalls widersprüchlich.

Im August beherrschte ein Plan des neuen Zentralbankpräsidenten Geraschenko die öffentliche Diskussion, der die Betriebe von ihren hohen Schulden befreien sollte. Durchgängig wurde das Vorhaben als Angriff gegen den für die Reformen verantwortlich zeichnenden Premierminister Jegor Gaidar gewertet: Um die Schulden zu bezahlen, müsse Geraschenko noch mehr Rubel drucken und werde damit die Inflation weiter anheizen, hieß es in Rußlands Presse.

Westliche Finanzexperten zogen hingegen nur die Augenbrauen hoch und sprachen von einem Nullsummenspiel: Bei den meisten Betriebe entsprechen die Außenstände ungefähr der Höhe ihrer Schulden. Weit über 60 Prozent aller produzierten und ausgelieferten Güter, schrieb die Moskauer Wirtschaftszeitung Kommersant, sind noch nicht bezahlt. Aber was haben schon Einnahmen mit Ausgaben zu tun?

Daß gleichzeitig die erste IWF- Milliarde aus dem lange versprochenen 24-Milliarden-Dollar-Hilfspaket nach Moskau überwiesen und zwecks Rubelstabilisierung in die Währungsreserve gesteckt wurde, war dem russischen Fernsehen nur eine Kurzmeldung wert.

Lediglich ein Punkt des IWF- Programms ist auch in Rußland Thema: der Ölpreis. Die Regierung hatte IWF-Exekutivdirektor Michel Camdessus im Juli vor dem Münchner Weltwirtschaftsgipfel versprochen, die russischen Energiepreise an das Weltmarktniveau heranzuführen.

Derzeit liegt der Ölpreis in Rußland bei weniger als zehn Prozent des Weltmarktpreises: Die Regierung könnte also durch eine drastische Erhöhung die immer größer werdende Lücke zwischen Haushaltseinnahmen und -ausgaben schließen. Daß sie das bisher immer wieder aufgeschoben hat, wurde in dieser Woche als Grund für den erneuten Kursrutsch des Rubels gegenüber dem Dollar genannt.

Die meisten RussInnen jedoch sind erleichtert, daß die Energiepreise bisher nicht erhöht worden sind, weil das eine weitere Runde von Preissteigerungen eingeläutet hätte. Nach der offiziellen Regierungsstatistik verdiente im ersten Halbjahr dieses Jahres die Hälfte der Bevölkerung weniger als für das Existenzminimum notwenig wäre. Während die Einkommen im Juni nach dieser Statistik durchschnittlich 6,9 mal höher lagen als ein Jahr zuvor, stiegen die Preise für Nahrungsmittel um das 12,7fache.

Offiziell lag der Durchschnittslohn im Juni bei 4.400 Rubeln. Weil aber Löhne und Gehälter bar ausgezahlt werden, und die Notenpresse mit dem Drucken nicht mehr nachkommt, schickten etliche Betriebe ihre Beschäftigten in verlängerten unbezahlten Sommerurlaub. Und 30jährige UniversitätsdozentInnen in Moskau verdienen monatlich lediglich 2.200 Rubel, in einer Stadt, in der ein Kilo Äpfel nicht unter 50 Rubeln, ein Kilo Birnen kaum unter 80 Rubeln zu bekommen ist.

Preise sind das Thema Nr.1 in Moskau. Eine Ölpreisexplosion würde jene 95-Prozent-Mehrheit der Russen hart treffen, die von westlichen Konsumgüterfirmen wegen ihrer Kaufkraftschwäche explizit als die „Armen“ bezeichnet werden. Westeuropäische Haushalts-, Elektro- und Fernsehgerätehersteller richten sich mit ihrem Angebot deshalb zunächst ausschließlich an die „fünf Prozent, die wirklich reich sind“, so ein deutscher Manager — jene zumeist jüngeren Männer, auf die westliche Touristen in den wenigen Moskauer Restaurants treffen, in denen das Essen pro Person ein Unidozenten-Monatsgehalt kostet: 2.200 Rubel — oder 20 D-Mark.

Wo der Dollar sehr viel wert ist

Das Kursverhältnis des Rubel zu Mark und Dollar zeigt vor allem eins: die tiefe Vertrauenskrise der RussInnen in die eigene Währung. Denn so wenig wert, wie sein Kurs, ist der Rubel nun auch wieder nicht. Die Inflationsrate errechnet sich gemeinhin aus der Schere zwischen dem Wert der produzierten Waren und Dienstleistungen einer Volkswirtschaft und der in Umlauf befindlichen Geldmenge. Im Juni waren laut Kommersant pro Rubel Waren für etwa 49,7 Prozent in Umlauf.

Wechselkurse zwischen Währungen errechnen sich — läßt man die Spekulation beiseite — aus dem Kaufkraftvergleich. Für 1,50 Dollar kann aber auch im Billiglohnland Rußland nicht das 100-Gramm-Glas Kaviar hergestellt werden, das auf Moskaus Märkten 300 Rubel kostet.

Verbote wirtschaftlicher Tätigkeit

Die ans absurde grenzende Abwertung des Rubels wiederum motiviert Rußlands Exporteure, ihre Deviseneinnahmen im Ausland anzulegen. Nach den Gesetzen müssen russische und Joint-venture-Firmen die Hälfte aller Deviseneinnahmen zum Marktkurs in Rubel eintauschen. Doch die Kontrolle funktioniert nur dann, wenn der Exporteur seine Deviseneinnahmen auf seinem Bankkonto verbuchen läßt. Wenn er stattdessen Waren einkauft und nach Rußland einführt, ist die Wahrscheinlichkeit gering, daß der Zoll die Rechnungen nachprüft.

Für Joint-venture-Firmen erweist sich der Umtauschzwang häufig „geradezu als Verbot, hier wirtschaftlich tätig zu werden“, meint die Repräsentatin einer Versicherung — zumal die russischen Banken Prämieneinnahmen wie einen Unternehmensgewinn bewerten. „Wie aber sollen wir unseren Kunden erklären, daß sie ihre Prämien zwar in Devisen bezahlen, ihren Schaden dann aber zur Hälfte in Rubeln ersetzt bekommen?“

Mehr noch als die Inflation behindern nach Aussagen westlicher Geschäftsleute die Gesetze einen Erfolg der Reformen. Und selbst wenn Jelzin ein Dekret erläßt, der Oberste Sowjet ein Gesetz beschließt, heißt das noch lange nicht, daß es auch umgesetzt wird, klagen deutsche Unternehmer in Moskau. Wenn sie sich auf ein neues Gesetz berufen, hören sie aus den zuständigen Behörden meist: „Wir haben keine Instrukzia.“

Auf eigenen Wunsch bleiben die GespächspartnerInnen anonym.