„Wer vom Ball getroffen wurde, wurde erschossen“

■ Der Fotojournalist Andrée Kaiser berichtet über seine Reisen in das von serbischen Truppen besetzte Gebiet Bosniens/ Ohne Probleme erhielt er die Erlaubnis, das Lager Manjaca zu besuchen/ Serbische Truppen scheinen demoralisiert

taz: Ende Juni sind Sie zusammen mit einem amerikanischen Journalisten nach Bosnien gereist. In ein Gebiet, das von serbischen Truppen kontrolliert wird. Wie ist Ihnen dies gelungen?

Andrée Kaiser: Es gab nur eine einzige Möglichkeit. 2.000 Serben, die Anfang des Jahres Banja Luka aus Furcht vor einem kroatischen Angriff verlassen hatten, wollten nun in diese nordbosnische Stadt zurückkehren. Von Belgrad aus startete ein Konvoi von 24 Bussen, mit diesen sind auch wir nach Banja Luka gekommen. Und dabei konnten wir dann sehen, was die serbischen Truppen in Bosnien angerichtet haben. Eine Stadt wie das ostbosnische Modrica, das in Friedenszeiten 35.000 Einwohner zählte, war völlig verlassen. Unzählige Dörfer waren zerstört, hier gab es nur Vieh, streunende Hunde und serbische Soldaten. Aber auch viele Serben haben zum ersten Mal erfahren, was dieser Krieg bedeutet. Sie waren entsetzt.

Was ist mit der Bevölkerung dieser Dörfer und Städte passiert?

Ein Zeuge aus einem Dorf bei Zvornik berichtete, daß alle Einwohner seines Dorfes in eine Turnhalle getrieben wurden. Dort begannen die serbischen Soldaten, Fußball zu spielen. Diejenigen Muslimanen, die von dem Ball getroffen wurden, wurden erschossen. Danach mußten Frauen und Männer sich in einer langen Reihe auf der Dorfstraße aufstellen. Die Soldaten diskutierten, wie man sie umbringen sollte. Kugeln schienen ihnen „zu teuer“ zu sein. So wurden sie stranguliert. Nur der Zeuge, der im letzten Drittel der Reihe stand, konnte fliehen. Mit einem Schulterdurchschuß. Aber seine ganze Famile wurde umgebracht. 18 Menschen. Andere Zeugen berichten, daß Männer zwischen 20 und 30 Jahren meist sofort liquidiert werden. Die Intellektuellen bringt man in „Todeslager“, die anderen Männer in Gefangenenlager. Für Mädchen im Alter von 14 bis 21 gibt es zwei Kategorien von Lagern: zum einen sind das Bordelle für die serbischen Soldaten, die zweite Kategorie sind Lager, in denen Frauen und Mädchen systematisch von Serben vergewaltigt und geschwängert werden. Das heißt, es geht nicht nur darum, die Männer zu töten, Land zu erobern, Kultur zu zerstören, Menschen zu vertreiben, gleichzeitig soll sich auch das „serbische Blut vermehren“.

Was verstehen Sie konkret unter einem „Todeslager“?

Zum Beispiel das Lager Omarska in der Nähe von Prijedor. Hier wurde die gesamte intellektuelle Schicht von Prijedor umgebracht, der Bürgermeister, die Ärzte. Doch die Menschen werden nicht „einfach“ erschossen. Omarska war früher ein Eisenerzbergwerk, und darum gibt es nach Aussagen unserer Zeugen dort Käfige, die zum Waschen des Eisenerzes verwendet wurden. In jeden dieser Käfige, die cirka 24x18 Meter groß sind, wurden rund 400 Menschen gesperrt. Sie erhalten fast nichts zu essen und zu trinken, es ist drückend heiß... und so sterben sie. Wir haben mit dem Chefarchitekten des Eisenerzbergwerks gesprochen, und der hat bestätigt, daß es diese Käfige dort gibt. Ein Zeuge berichtete aber auch von Erschießungen.

Wie viele Menschen wurden dort getötet?

Ein Mitglied einer internationalen Delegation, die drei Wochen nach den ersten Berichten über Omarska erneut das Lager besuchen konnte, berichtete, daß in in diesem Zeitraum 1.200 Gefangene umgebracht worden sind. Heute sollen in Omarska noch rund 3.600 Menschen sein.

Wie war es für Sie möglich, in die Lager zu kommen?

Wir haben mit dem Bürgermeister von Banja Luka ein Interview geführt. Irgendwann haben wir ihn dann auf die Gerüchte über Kriegsgefangenenlager angesprochen. Er hat bestätigt, daß es Lager gibt, in denen „extremistische Muslimanen“ festgehalten werden. Wir mußten gar nicht fragen, ob wir eines dieser Lager besuchen dürfen, ein Militärpressesprecher hat uns selbst angeboten, nach Manjaca zu fahren.

Das heißt, daß die Serben kein Unrechtsbewußtsein haben?

Nein, das haben sie nicht. Und sie fühlen sich sehr sicher. Unter Druck gerieten sie erst, als die Weltöffentlichkeit auf die ersten Berichte über die Zustände in den Gefangenenlagern reagierte, nun mußten sie auch Omarska für internationale Delegationen und Journalisten öffnen. Manjaca war früher eine LPG. Wir durften uns dort nicht frei bewegen, durften nicht sehen, wo die Menschen untergebracht sind. Statt dessen haben sie uns auf einem Vorplatz sieben Männer vorgeführt. Alle sagten, daß sie muslimanische Extremisten sind, daß sie Frauen und Kinder getötet hatten. Ich hatte vier enge Bewacher, die mir zeigten, was ich fotografieren durfte. Doch dann kamen auf einmal „Neuzugänge“, ein Lastwagen mit 40 Gefangenen, Zivilisten. Diese waren etwa 200 Meter von uns entfernt, ihnen wurden die Haare rasiert, und sie wurden geprügelt. Ich habe zu meinem Kollegen gesagt, daß wir Zeit schinden müssen. Ich habe mich hingesetzt und habe so getan, als würden mich die neuen Gefangenen gar nicht interessieren. Nach einer Viertelstunde wurden die Bewacher nachlässig, sie haben angefangen zu rauchen. So konnte ich die Gefangenen fotografieren, es war das erste Bild, das in einem Lager gemacht wurde.

Wie sind Sie aus Banja Luka herausgekommen?

Wir haben erfahren, daß 300 kroatische Studenten und Studentinnen die Stadt verlassen wollten. Doch sie waren bereits viermal an Straßensperren von serbischen Soldaten zurückgeschickt worden. Eine gemeinsame Fahrt war so nicht nur für uns, sondern auch für sie die einzige Chance. Von Banja Luka bis auf kroatisches Gebiet, das heißt bis Bosanska Gradica, sind es 60 Kilometer, für diese Strecke haben die sechs Busse 18 Stunden gebraucht. Es gab sechs Straßensperren, an denen alle Fenster verriegelt werden mußten. Es waren 35 Grad, und wir mußten zwei Stunden warten, wir sind fast erstickt. An der Grenzbrücke durften nur wir Journalisten aussteigen. Die Serben stiegen in den Bus und führten zwei Studenten in ihr Hauptquartier. Dort verprügelten sie sie, wir haben die Schreie gehört. Und wir konnten nichts machen... Aus jedem Bus haben sie zwei geholt und verprügelt, dann durften wir weiterfahren. Danach kamen wir zur UNO-Kontrolle. Das waren Ghanaer, die überhaupt keinen Überblick hatten, dort standen wir noch einmal eine Stunde.

Haben Sie Ihre Identität als Deutscher aufdecken müssen?

Ich hatte einen Paß der UNO, und da stand nur, daß ich für eine amerikanische Zeitschrift arbeite. Ich würde heute keinem Journalisten mehr raten, allein durch die besetzten Gebiete zu fahren. Natürlich kann man die serbischen Truppen fragen, ob es möglich ist, sie bei ihren Einsätzen zu begleiten. Aber das heißt dann, daß sie den Ehrgeiz haben, noch mehr Menschen zu töten.

Eure zweite Reise führte nach Tuzla, eine von serbischen Truppen eingeschlossene Stadt in Ostbosnien.

Während die Serben inzwischen 70 Prozent Bosniens kontrollieren, sind den Muslimanen ganze 10 Prozent geblieben. Die Eroberung Tuzlas — eine Stadt mit immerhin 130.000 Einwohnern — konnten sie mit einem erfolgreichen Trick verhindern: Anfang Mai hat der Gemeinderat den Serben angeboten, die Stadt freiwillig zu übergeben. Dadurch sollten „unnötige Todesopfer vermieden“ werden. Die feierliche „Machtübernahme“ war für den 15.Mai geplant, bereits zuvor hatten die siegessicheren Serben jedoch 4.000 der 6.000 Soldaten, die in Tuzla stationiert waren, abgezogen. Einen Tag vor der Übergabe sind diese dann von den Muslimanen angegriffen worden, es gab harte Gefechte. Nun sitzen die Serben auf den Berghängen und ballern auf die Stadt. Den Moslems ist es aber auch gelungen, einen Korridor zu schaffen. Über ihn bringen die sogenannten Homeless-Clubs Hilfslieferungen nach Tuzla, einen dieser Konvois haben wir begleitet. Von Split nach Kiseljak, an Sarajevo vorbei, über die Berge. Dort gibt es eigentlich keine Straßen mehr, nachts fährt man an den serbischen Stellungen vorbei, 20 bis 30 Kilometer in der Stunde, insgesamt brauchten wir drei Tage.

Diese Beschreibung zeigt aber auch, daß die Serben nicht stark genug sind, die Stadt zurückzuerobern.

Nein, denn sie haben nicht die moralische Stärke der Muslimanen. Daher gibt es z. B. auch kaum Straßengefechte, die Serben ziehen sich sofort in ihre Stellungen zurück. Die Muslimanen haben nichts mehr zu verlieren, sie starten wahre Selbstmordaktionen, wagen fast alles. Die Serben lassen sich jeden Tag vollaufen, essen Speck, sitzen in ihren Panzern und feuern ihre Granaten ab.

Haben Sie auf diesen Reisen auch mit serbischen Soldaten sprechen können?

Ich hatte einmal Kontakt zu gefangenen Tschetniks. Es stand ein Gefangenenaustausch bevor, und ich habe sie gefragt, ob sie ausgetauscht werden möchten. Diese Frage haben sie zwar mit Ja beantwortet, gleichzeitig wurde aber auch deutlich, daß sie nicht mehr kämpfen wollen. Ich glaube, daß die serbische Armee schon ziemlich demoralisiert ist. Wenn heute über die serbischen Partisanen im 2. Weltkrieg und über ihre „Kampfesmoral“ gesprochen wird, dann vergißt man, daß die Serben damals ihr Land gegen die Deutschen verteidigten. Heute jedoch sind sie die Angreifer. Sie wissen, daß sie Zivilisten töten...

In Tuzla haben Sie mit bosnischen Frauen gesprochen, die von Serben vergewaltigt worden waren?

Ja, wir haben dort mit Frauen gesprochen, die in den Frauenlagern waren. Am Anfang wollten sie nichts sagen, doch nach zwei oder drei Tagen haben sie sich dann doch entschlossen. Im Laufe der Erzählung brachen all ihre Erlebnisse, ihre Gefühle buchstäblich aus ihnen heraus. Da habe auch ich zum ersten Mal geweint. Da standen Mädchen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren in einer Turnhalle, die voller Frauen war. Niemand sprach, alle weinten. Viele Mädchen waren gemeinsam mit ihren Müttern in den Lagern gewesen. Eine Neunundsechzigjährige war dreizehnmal vergewaltigt worden.

Ein Mädchen hat uns aber auch erzählt, daß der serbische Soldat, der sie mit aufs Zimmer genommen hatte, zu ihr sagte: Ich möchte dich nicht vergewaltigen, du mußt aber schreien, du mußt so tun, als ob. Das heißt, sie hatten den Befehl, zu vergewaltigen. Das heißt, daß die serbische Regierung versucht, möglichst viele Kriegsverbrecher zu schaffen. Int: E. Rathfelder/S. Herre