Blickdichte Brillen

■ Aki Kaurismäkis »Calamari Union«, 1985

Stellen Sie sich einmal vor, Sie leben im Erdgeschoß eines zwanzigstöckigen Hochhauses mit Ihrer siebzehnköpfigen Bagage. Alle heißen Frank. Eines Tages beschließen Sie, sich nach oben zum Penthouse durchzuschlagen. Denn Sie fühlen sich bedroht von »bösen alten Frauen mit kleinen spitzen Ellbogen, von Löffeln, Schreibmaschinen und kuhgroßen Hunden«, die sich vor Ihren Fenstern tummeln. Und da gibt's nur einen Ausweg: nach oben, »wo man freier atmen kann«. Aber alle kommen nicht an.

Blödsinn, Nonsens? Nun, nicht mehr oder weniger als Aki Kaurismäkis »Calamari Union« von 1985, den das Moviemento als weitere Entdeckung des finnischen Regisseurs präsentiert: 18 junge Männer (17 hören auf den klangvollen Namen Frank) beschließen, die schmutzige und gefährliche Hälfte Helsinkis zu verlassen, um zur verheißungsvollen anderen Seite, nach Estonia, zu gelangen. Nach 80 Minuten tiefschwarzweißen Helsinki-Bildern Timo Salminens haben zwei die unerwartet komplizierte Reise überlebt. Sie besteigen einen Kahn und schippern übers trübe Wasser. Die restlichen hat es dahingerafft.

Ein paar bad boys mit blickdichten schwarzen Sonnenbrillen ziehen aus — nicht um das Fürchten zu lernen. Das gibt's gratis in ihrem Bezirk. Sie kapern eine U-Bahn, schlafen auf Bäumen, machen Geschäfte, frühstücken. Sie klauen Flaschen und Büchsen, bringen das Diebesgut wieder zurück, setzen sich in Hotels ab und finden die Frau ihres Lebens. Was halt so passiert, wenn welche von einer Seite auf die andere wollen. Doch die Stadt ist ein zähes altes Luder, das ihre untröstlichen Kinder einfach nicht hergeben will.

Straßen, Highways, Brücken formieren sich zu einem fidelen Labyrinth. Frank und Frank treiben ihre Odyssee in geklauten Automobilen voran, und wenn's mal ein Leichenwagen ist, paßt das auch, da Frank gerade Frank erschlagen hat. Ganz am Ende, wenn alle richtig tot sind, mutieren die Franks noch zu einer gräßlichen Rock-Band und singen »Bad boys kommen, um euer ganzes Spielzeug zu zertrümmern«. Finnish guys are made of this.

»Calamari Union«, ein Film? Mehr eine Zelluloid-Verrücktheit, ein so-called-film, für schlappe 100.000 Dollar Produktionskosten, ohne Drehbuch, »improvisiert von einem Tag zum anderen«, nachdem sich Aki Kaurismäki an das beste Buch der Welt, »Schuld und Sühne« von Dostojewski, herangemacht hatte (»Crime and Punishment«). In seinen Filmen sei alles an der Oberfläche. Wer nach tieferen Bedeutungen grabe, finde nichts, schon gar nicht in »Calamari Union«. Was soll auch hinter Sonnenbrillen zu vermuten sein. Yvonne Rehhahn

»Calamari Union«, Aki Kaurismäki, Moviemento 2