„Wir waren allzu lange isoliert“

Finnland setzt voll auf die EG/ Die Armut des Nachbarn Rußland zwingt zum raschen Beitritt  ■ Von Beatrice Zoppelli

Meine Familie stammt aus Karelien. Wir sind zurückgekehrt und haben unseren alten Bauernhof renoviert. Er war glücklicherweise noch gut intakt. Eine Familie aus Leningrad hatte ihn als Landsitz benutzt, anständige Leute. Sie waren sehr nett zu uns.“ Seppo Lalluka, Wissenschaftler am Institut für kulturelle Zusammenarbeit mit Rußland und den Staaten des Ostens (früher: Institut für die Beziehungen zur UdSSR), gehört zu jenen mehr als hunderttausend Finnen, die wieder in das einst — zur Strafe wegen der Allianz mit dem nationalsozialistischen Deutschland — der UdSSR zugeschlagene Stück Finnlands zurückkommen. Ein Massenzustrom— der wohl spektakulärste Effekt des Zusammenbruchs der letzten Mauer in Europa: die mehr als 1.300 km lange Grenze war vordem schwerstbewacht, sichtbares Zeichen des massiven Einflusses des „Großen sowjetischen Bruders“.

Den gibt es nun nicht mehr: Nach der im Januar erfolgten Unterschrift unter den Vertrag mit Rußland, der das Ende des Systems politischer, wirtschaftlicher und militärischer Zusammenarbeit mit der UdSSR besiegelte, hat Finnland im Juni den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft ab 1995 beantragt. Mit der Regierung des Zentrumspolitikers Esko Aho — die erste seit 25 Jahren ohne die Sozialdemokraten — schlägt Helsinki ein neues Kapitel der Geschichte des Landes auf. Nach den Jahrzehnten schwierigster Balance zwischen Ost und West will man wieder ohne Wenn und Aber zum Westen gehören. Doch der Fall der Nord-Mauer hat bisher eher mehr denn weniger Probleme gebracht. Nur zwei Grenzübergänge gab es vordem, das Visa-System war rigoros, für Reisen ins Grenzgebiet mußten sogar die Finnen Sondererlaubnis einholen. Jenseits der Grenze nur Wälder, „geschlossenes Gebiet“, wo sich auch die Sowjetbürger nicht aufhalten durften. „Als ob die Welt dort zu Ende wäre“, erinnert sich Lalluka. Mittlerweile sind die Visa schnell und leicht zu haben, die Grenzkontrollen sind nur noch sporadisch und kurz, und die Finnen erleben, daß Russen mit „normaler Stimme“ und nicht nur wie einst im Amtston sprechen. Hietalah Den Tori, der Hühnermarkt von Helsinki, wurde inzwischen unter Anspielung auf den Zustrom russischer und estnischer Touristen (nach Polizeiangaben zweitausend pro Tag) in „Roter Platz“ umgetauft. Die kommen aber nicht zum Kaufen, sondern sie verhökern ihre Waren, gebrauchte Gegenstände, miserablen Alkohol und Drogen, die man für Bodybuilding benutzt.

Diebstähle in den Geschäften sind an der Tagesordnung, und in den Hotels gehen zahllose Prostituierte ihrer Arbeit nach. Erscheinungen, die die finnischen Behörden immer mehr beunruhigen: Der stellvertretende Polizeichef Kari Rantama hat erklärt, daß sein Staat mittlerweile „Grenzstation zum gefährlichsten Land der Welt“ geworden ist. Auch von daher setzen viele ihre Hoffnungen auf Hilfe aus dem Westen, speziell aus der EG.

Dennoch rühren die Hoffnungen auf Europa-West weniger aus der Angst vor Kriminalität und Infiltration des verfallenden Ostens her, sondern entspringen konkreten wirtschaftlichen Überlegungen. Finnland hatte vordem von seiner einzigartigen Position erheblich profitiert: Im Tausch gegen Petroleum und Kohle lieferte das Land Kleidung, Nahrungsmittel, Papier, Baumaterialien westlicher Provenienz in die UdSSR. Doch als die Sowjetunion 1990 zusammenbrach, forderte der Osten seinerseits Rohstoffe aus Finnland. Der Handel kam fast ganz zum Erliegen — von einst gut 25 Prozent des Gesamtumsatzes blieben nur noch drei bis vier Prozent.

Der Verlust eines sicheren und noch dazu recht genügsamen Marktes wie des sowjetischen zwingt nun die finnischen Firmen zur Steigerung ihrer Produktivität und ihrer Qualität. Schluß mit dem zentralisierten, protektionistischen System — der Eintritt Finnlands in die EG bedeutet die Privatisierung großer Teile der Staatsunternehmen, einen Lohnstopp, Reduzierung der Preise und schwere Abstriche bei den öffentlichen Ausgaben und schließlich auch das Ende der großzügigen Subventionen für die Landwirtschaft.

Harte Zeiten sind damit absehbar. Doch trotz des Anti-Maastricht-Referendums im nahen Dänemark sind nach einer neuen Umfrage 60 Prozent der Finnen für den EG-Beitritt und 20 Prozent unentschieden. Manche machen sich selbst Mut: „Im Endeffekt kann uns der Beitritt nur Gutes bringen. Wir waren einfach allzu lange isoliert“, sagt die Universitätsprofessorin Aira Pohjanvaara. „Was wir brauchen, ist ein Zufluß neuer Ideen. Das alleine ist meine Hoffnung für die Zukunft.“

Die Autorin ist Mitarbeiterin des Politmagazins „Panorama“, für das dieser Bericht auch verfaßt wurde.