Noch regiert das Althergebrachte

■ Neue Werkstoffe und Anforderungen können das Fahrrad gewaltig verändern

könnten das Fahrrad gewaltig verändern

Trotz Mountainbike, Triathlon- Lenker, Titan- und Karbonrahmen — noch ist das Fahrrad konventioneller Bauart überlegen. Ein leichter Stahlrahmen in klassischer Geometrie, gepaart mit traditioneller Handwerkskunst aus der norditalienischen Edelschmiede Campagnolo, dazu gehärtete Felgen, Stahlspeichen und Hochdruckreifen — der Fahrradtyp der 50er Jahre ist immer noch das Feinste und Bequemste, wenn es gilt, sich zur Fernreise oder zum Feierabendspurt aufs Rad zu schwingen.

Auch im Stadtverkehr und beim Einkauf reicht ein Rad klassischer Bauart, etwas robuster freilich als die schmalbereiften Asphaltflitzer und womöglich mit einem halbwegs vernünftigen Anhänger kombiniert, um aller neuen Konkurrenz das Wasser in Sachen Gebrauchswert zu reichen. Fahrradkonstruktion ist eine inzwischen solide ausgereifte, weit über 100 Jahre alte Technik, die trotz mancher Verbesserungen im Detail ihrem Grundprinzip treu geblieben ist.

In den vergangenen Jahren haben uns Alternativszene, Fachhochschulen, Medaillenschmieden und Sportindustrie mit einer Fülle neuer Fahrradtypen und -designs überschüttet, meist nur für eng begrenzte Einsatzzwecke konstruiert. Der Durchbruch für ein wirklich neues Alltagsrad blieb bislang aus. Bei Rahmen, Antrieb, Rädern und Bremsen regiert noch immer das Althergebrachte. Die bisherigen Erfahrungen mit neuen Materialien, die ganz andere Rahmengeometrien erlauben würden, sind bescheiden: Der exotisch teure und wahnwitzig schwer zu verarbeitende Rohstoff Titan ist vom Preis her (4000 - 6000 Mark nur für den Rahmen) für ein Alltagsprodukt völlig untauglich, sein hauptsächlicher Nutzen besteht darin, Gewicht zu sparen.

Fahrrad 2000: Winzräder

und dünne Keramikachsen?

Ernüchternd auch die Ergebnisse mit Kunststoffen: Die Karbonfaserräder, mit denen der deutsche Olympia-Vierer Gold erstrampelte, sind wahre Folterinstrumente, denen Elastizität und Straßenlage, im medaillenfreien Alltag unabdingbar, abgehen.

Dennoch erwarten viele von den Kunststoffen eine Fahrradrevolution. Wenn man die neuen Werkstoffe erst in den Griff bekommen hat, so die These, wäre das Rad der Zukunft geboren. Vielleicht mit hauchdünnen Keramikachsen, winzigen Rädern, beliebig zusammenfaltbar und mit einer variabel einstellbaren Automatikschaltung? Vielleicht ein Liegedreirad mit Solardach und Elektromotor? Vielleicht ein modulares Fahrrad aus einsteckbaren Teilen, beliebig vom Gelände- aufs Einkaufsrad mit Anhänger umrüstbar? Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Schön und schon vorher machbar wäre es allerdings, wenn die Fahrradindustrie endlich vernünftige und preiswerte Anhänger mit fahrradspezifischen Kupplungen herausbringen würde. Die wenigen alltagstauglichen Modelle werden noch mit Prohibitivpreisen von über 600 Mark vertrieben und sind dennoch längst nicht ausgereift.

Der enorme Aufschwung der Fahrradindustrie und die damit einhergehende Internationalisierung hat zumindest einige der grauslichsten deutschen Fahrradstandards nachhaltig ins Wanken gebracht. Die unsägliche, gefährliche Rücktrittbremse, eine Art fahrradtechnischer Urschrei der Altvorderen, ist endlich auf dem Rückzug. Gute Felgenbremsen an unverchromten Felgen, von der Cantileverbremse bis zur Öldruckbremse, sind im Vormarsch. Kleiner Tip: Immer mit der Vorderbremse bremsen (aber nicht zu stark, sonst überschlägt man sich), die Hinterbremse zwar gleichzeitig, aber nachrangig ins Spiel bringen. So kommt man am sichersten zum Stehen.

Schnelles Treten statt

unergonomischem Stampfen

Abschied auch vom Nullgangrad oder den Knieschändern der 3- oder 5-Gang-Nabenschaltungen. Gut konstruierte Kettenschaltungen, von bestechend schlichter Bauart, erlauben schnelles gleichmäßiges Treten — statt des bisherigen unergonomischen deutschen Stampfens —, auch wenn freilich manche ihre 21-Gang-Schaltung so malträtieren, als ob sie noch immer auf dem guten alten NSU-Bock säßen und die Harburger Berge im dritten Fichtel&Sachs-Gang hinauf müßten.

Auch wenn wir auf eine neue Generation revolutionär zweckmäßiger Alltagsräder noch warten müssen — wer gut beraten und zweckgerichtet sucht und nicht modischem Schnickschnack nachrennt, findet heute immerhin Räder, mit denen das Fahren weit mehr Spaß macht, sicherer und bequemer ist, als noch vor wenigen Jahren. Florian Marten