Konservative fordern Jelzins Kopf

Bei der Herbsttagung des Obersten Sowjet Rußlands stehen die Wirtschaftsreformen der Regierung im Zentrum der Kritik/ Doch Jelzin kann sich auf eine Allianz aus Zentristen und Liberalen stützen  ■ Aus Moskau K.-H. Donath

Der Oberste Sowjet Rußlands geht heute in seine turnusmäßige Herbstsitzung, und wieder drohen Parlamentarier verschiedener konservativer Fraktionen, den Sturz des Präsidenten einzuleiten. Gemäßigtere Kreise geben sich dagegen schon mit dem Rücktritt der Regierungsmannschaft zufrieden. Insbesondere mit der Absetzung des ungeliebten geschäftsführenden Premierministers Jegor Gaidar. Als Blitzableiter vertritt er nach außen das ökonomische Reformprogramm.

Doch Boris Jelzin ist vorgewarnt. Denn bereits der letzte Volksdeputiertenkongreß sah einen Aufstand der Legislative, der die Regierung für kurze Zeit das Fürchten lehrte. Jelzin überstand. Geschickt baute er sein Kabinett um, nahm Praktiker aus dem militärisch-industriellen Komplex in seinen Kreis auf. Zudem hob er einen „Sicherheitsrat beim Präsidenten“, dem ebenfalls nicht nur Reformer angehören, aus der Taufe.

Die Umgruppierungen haben den Präsidenten anscheinend mit Zuversicht ausgestattet. Am Vorabend des Duells zwischen Oberstem Sowjet und Exekutive sprach er lediglich von bevorstehenden „politischen Spielen“. Er nahm dem Ereignis den dramatischen Gehalt, den die Opposition des noch zur Sowjetzeit gewählten Parlamentes der Sitzung so gerne beimischen möchte. Als stünde das Schicksal des Landes auf dem Spiel.

Demonstrativ bekräftigte Jelzin nach einem Gespräch mit Gaidar, der Reformkurs werde auf jeden Fall fortgesetzt. Trotz einer konservativen Mehrheit braucht Jelzin um seine Position nicht zu bangen. Die Koalition zwischen den zentristischen und liberalen Kräften, die er mit Hilfe seiner Kaderpolitik konsolidiert hat, wird ihn als Präsidenten tragen. Fraglich sind somit nur das Tempo und die Radikalität der Wirtschaftsreformen.

Hier wird ihm die Koalition mit den Zentristen aus der „Bürgerunion“ noch weitere Kompromisse abringen. In der Bürgerunion haben sich Industrielle, die „Demokratische Partei Rußlands“ und die Partei des Vizepräsidenten Alexander Rutskoi, „Volkspartei Freies Rußland“, zusammengetan. Letzterer gehören ehemalige Kommunisten aus reformorientierten Zirkeln an.

Jelzins Suche nach der Massenbasis

Jelzin ließ sich mit ihnen ein, nachdem die antikommunistische radikaldemokratische Bewegung „Demokratisches Rußland“ in sich zerfiel und dem Präsidenten keine Massenbasis schaffen konnte. Im Parlament schloß sich die Bürgerunion noch mit sieben weiteren Fraktionen zum Block „Demokratisches Zentrum“ zusammen. Lautstark verkündete die Bürgerunion im August, sie werde ein alternatives Wirtschaftsprogramm vorlegen und auch den Rücktritt Gaidars fordern. Ein Zweihundertseitenentwurf soll den Abgeordneten vorgelegt werden. Beobachter entdeckten in ihm keine prinzipielle Unvereinbarkeit mit der Regierungslinie.

Die Auswechslung des Reformarchitekten scheint gleichfalls vom Tisch. Daran ist Jelzin sehr gelegen. Müßte er gehen, würde man zu Hause und im Ausland den Glauben an die Reformen gänzlich verlieren. Die graue Eminenz der russischen Politik und Drahtzieher in der Bürgerunion, Arkadij Wolskij, hat sich in den letzten Wochen auffallend zurückhaltend geäußert. Als Lobbyist der Staatsbetriebe geht es ihm vornehmlich um eine Besitzstandswahrung seiner Klientel. Was im Juni nach einer neuen schlagkräftigen Opposition aussah, entpuppt sich jetzt als eine zweckorientierte Interessengemeinschaft. Wolskij, heißt es, habe sich in seinen Manövern hinter den Kulissen völlig verstrickt. Ein ernsthafter Gegner des Regierungschefs ist er nicht mehr.

Gaidar gab sich dementsprechend zuversichtlich: „Es wird eine Menge Kritik an der Arbeit der Regierung geben und nicht wenige Schreie nach dem Rücktritt der Regierung. Aber ich glaube, wir können das überstehen.“ Mit Sicherheit wird es wieder laut zugehen im Obersten Sowjet. Mit Sicherheit wird es wieder Tumulte geben. Dafür wird schon sein ungehobelter Vorsitzender Ruslan Chasbulatow sorgen, der auch etwas im Schilde führen soll...