Judenhaß gibt's auch ohne Juden

■ Unausrottbar sind offenbar die Vorurteile gegen das jüdische Volk, stärker noch als in westlichen Staaten wird in Osteuropa der Antisemitismus als politische Waffe reaktiviert. Rund 300 Historiker und...

Judenhaß gibt's auch ohne Juden Unausrottbar sind offenbar die Vorurteile gegen das jüdische Volk, stärker noch als in westlichen Staaten wird in Osteuropa der Antisemitismus als politische Waffe reaktiviert. Rund 300 Historiker und Soziologen befaßten sich bis gestern drei Tage lang mit Hintergründen und Ursachen der neuen Judenfeindlichkeit.

Auf wissenschaftlichen Kongressen geht man höflich miteinander um. Kontroversen werden in freundliche Fragen gepackt oder als „kleine Ergänzungen“ getarnt, das Fazit lautet immer: Der Forschungsgegenstand bedarf noch der gründlicheren Diskussion. Das war auf der gestern in Berlin zu Ende gegangenen „Internationalen Konferenz über Antisemitismus in Europa“ nicht anders. Etwa 300 Wissenschaftler aus der ganzen Welt drängten sich drei übervolle Tage im akustisch schlimmsten Vorlesungsraum der Technischen Universität zusammen, um die Erscheinungsformen des vor allem in Osteuropa konstatierten Antisemitismus zu benennen und zu analysieren. Die Debatte allerdings, ob der Antisemitismus tatsächlich zur realen Gefahr für die knapp zwei Millionen Juden in den GUS-Staaten werde und gleichermaßen den demokratischen Prozeß verhindern könne, blieb dank der Kollegen-Konzilianz im dunkeln. „Sind die Ex-Sowjets nun antisemitisch oder nicht“, stöhnte eine Tagungsteilnehmerin am Ende des Gesprächsmarathons hilflos.

Jehuda Bauer, Leiter des „International Center for the Study of Antisemitism“ an der Hebrew University in Jerusalem und zusammen mit Wolfgang Benz vom Berliner „Zentrum für Antisemitismusforschung“ sowie Anthony Lermann, Direktor des Londoner „Institute of Jewish Affairs“, Organisator der Tagung, lieferte die Vorgabe. In seinem Eingangsreferat über den Antisemitismus als Weltproblem meinte er, daß der Niedergang linker Ideologien in den heutigen GUS-Staaten ein ideologisches Vakuum hinterlassen habe und daß die Sinnkrise, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit derzeit der gefährlichste Nährboden für Antisemitismus auf der ganzen Welt sei. Der Kommunismus sei als Alternative zum Kapitalismus verschwunden, und der westliche liberale Kapitalismus würde keine wahre Lösung der Probleme bringen. In dieser Situation verbänden sich die orthodoxen Kommunisten mit den rechten chauvinistischen Kräften, um die Öffnung nach Westen zu verhindern und die Überlegenheit der russisch-ethnischen Gruppen gegenüber anderen Völkern zu betonen. Wie schon im 19. Jahrhundert werden die Juden als Träger der Moderne, Aufklärung und gleichermaßen Synonym für alles Fremde zum Feindbild gemacht.

Zur Akzeptanz in der russischen Gesellschaft

Die Juden — „aber man könnte genausogut: ,die Radfahrer‘ sagen“ — sind wieder an allem schuld, denn die Judenfeindschaft als Element der Vorurteilsstruktur funktioniere genauso gut mit wie ohne Juden. Das Gefährliche in der ehemaligen Sowjetunion sei aber, daß der Antisemitismus eine Bewegung der Intellektuellen sei und Bestandteil der offiziellen Denkweisen werden könnte, wenn die Sozialdemokratie weiter „hilflos ihre Wunden lecke“.

Daß in Rußland der Antisemitismus akut und für den demokratischen Prozeß hochgefährlich sei, bestritt im Workshop über die Situation in den GUS-Staaten Natalia Yukhneva aus Petersburg. Richtig sei, daß von den 22 Programmpunkten der chauvinistischen Pamjat-Bewegung sich 19 gegen die Juden richten und die von ihr gepuschte „Russische Partei“ im Februar dieses Jahres eine Schattenregierung aufgestellt habe. Dort gebe es gar ein „Ministerium zum Schutz des russischen Genfonds“, dessen Aufgabe die Überprüfung des reinen russischen Blutes sei. Richtig sei auch, daß Aufrufe zur körperlichen Gewalt und zur Zerstörung von jüdischen Friedhöfen kursieren und in orthodoxen Kirchen antijudaistische Pamphlete ausgelegt werden. Um aber festzustellen, welche Bedeutung diese „Auswüchse“ für die gesellschaftliche Entwicklung haben, wäre es wichtiger, die Akzeptanz bei der Bevölkerung herauszufinden. Dazu zitierte sie eine im März 1992 beendete Umfrage des Russian Center for Public Opinion & Market Research. Demnach seien nur zwei Prozent aller Russen aggressive Antisemiten, und 13 Prozent würden die Juden ganz allgemein nicht mögen. Auf der anderen Seite aber hätten 70 Prozent aller Russen nichts dagegen, Juden in der Nachbarschaft zu haben, und 40 Prozent wären einverstanden, wenn die eigenen Töchter oder Söhne Juden heirateten. Für Unruhe unter dem Publikum sorgte dann Yukhnevas Resümee, daß Rußland von allen ehemaligen sowjetischen Staaten am wenigsten antisemitisch sei. In einer judenfeindlichen Statistik würde Rußland nach Belorußland, Moldawien, der Ukraine, Aserbaidschan und Usbekistan erst an sechster Stelle stehen.

Solche Umfragen seien soviel wert wie der Unterschied zwischen Coca-Cola und Pepsi, ereiferte sich ein Teilnehmer und erinnerte an Churchills Satz: „Es gibt verdammte Lügen, und es gibt Statistiken.“ Andere fragten aufgebracht, warum — wenn Rußland das „Paradies der ehemaligen Sowjetstaaten sei“ — die Juden zu Hunderttausenden das Land verlassen. „Bestimmt nicht, weil Rußland antisemitisch ist“, bestätigte auch Mordechai Altshuler, Professor in Jerusalem. Er sei Zionist und freue sich über jeden Emigranten, der aus der Diaspora heimkomme. Aber definitiv stehe fest, daß die Juden in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen und in zweiter Linie aus kulturellen Gründen die Länder im Osten verließen. Am Beispiel der Ukraine sei dies deutlich zu machen. Zwar hätten 92 Prozent aller ukrainischen Juden für die Unabhängigkeit gestimmt. Aber nur 2,1 Prozent gäben als Muttersprache ukrainisch an. In der neuen Nationalkultur fühlten die Juden sich nicht zu Hause, und als russischsprechende Minderheit würden sie zu Fremden abgestempelt. Wie wertlos solche vergleichenden Umfragen zum Antisemitismus sind, wenn die Fragetechniken und Auswertungsinstrumentarien nicht offengelegt werden, bewies Altshuler durch seine Bemerkung, daß nicht die Ukrainer, sondern vielmehr die Russen und Balten antisemitisch seien. Deutlich war bei der Präsentation der GUS-Referate auf jeden Fall, auf welch dünnes Eis sich die Historiker begeben, wenn sie versuchen, ganz aktuelle Phänomene einer Bewertung zu unterziehen. Anita Kugler, Berlin