Der Dramatiker und Regisseur George Tabori (78) hat am Samstag den diesjährigen Georg-Büchner-Preis erhalten. Damit hat die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung nach den Worten des Vorjahrespreisträgers und Laudators Wolf Biermann den renommiertesten und hochdotiertesten deutschen Literaturpreis „ausgerechnet einem frechen Ausländer“ zuerkannt.

Büchner-Preis für einen notorischen Tabubrecher

Der alte Mann wirkt viel jünger als viele der Juroren, als viele der Verleger, Kritiker und anderen Kulturschaffenden im Großen Saal des Darmstädter Staatstheaters. Hochgewachsen, mit knorrigem Gesicht, einem über den Mund lappenden Oberlippenbart, stattlicher Haarpracht, in aristokratischer Haltung und mit seinem obligatorischen Schal um die Schultern betritt der 78 Jahre alte George Tabori die Bühne, die in einem gravitätisch-bedrückenden Schwarz gehalten ist. Der Auftrieb von medienbekannten Vertretern deutschen Geisteslebens, die seinetwillen angereist sind, irritiert ihn keinen Moment. Der Mann, dessen Alter seinem Aussehen Hohn spricht, beginnt mit einer etwas kryptischen Liebeserklärung an Deutschland und die deutsche Sprache. Eine ungewöhnliche Rede in einer Zeit, in der bedrückende Bilder um die Welt gehen, die Nacht für Nacht angezündete Wohnsilos von Asylbewerbern zeigen.

George Tabori geht mit keinem Wort darauf ein. Während sich anderswo in Deutschland die Pogromfreudigen zusammenrotten, beschwört der in Budapest geborene Jude Tabori, der 1933 als Student in Berlin die Machtübernahme der Nazis miterlebte und 1935 vor ihnen nach London fliehen mußte, die Liebe, „dieses peinliche, erschöpfende, verhunzte Wort“. Manchmal ist sich der Zuhörer nicht sicher, ob Tabori sich seiner Beschwörung sicher ist, denn seine Rede ist monoton, reichlich vernuschelt. Und wer den Text nicht mitlesen kann, bekommt nur die Hälfte mit. Aber trotzdem: Ein Jude bekennt öffentlich seine Liebe zu Deutschland. „Dieses Wort“ — Tabori buchstabiert es, im Pressetext ist es in Großbuchstaben gedruckt — sei „mein Thema, ohne Angst, wenn auch in Verlegenheit ausgesprochen“. Eine Dankesrede dürfe „nicht ein liebloses Ritual bleiben“. Auf die deutschen Zustände, für die Rostock ein Synonym ist, geht er nur indirekt ein. Indem er von seinem Vater erzählt, von dem er als Zehnjähriger „den ersten und zugleich letzten väterlichen Klaps in den Nacken erhielt“, als er ihm berichtete, in der Schule habe man gesagt, alle Rumänen seien schwul. Danach habe ihm der Vater erklärt, „dies wäre die Zeit der ekelerregenden Nationalismen, die die Menschheit mit einer Art von Die-da-ismen verdinglicht, um sie leichter zu vernichten“.

„Ungehörig, verrückt und von unerträglicher Wahrhaftigkeit“

Wolf Biermann bleibt es als Laudator vorbehalten, dort Klartext zu sprechen, wo sich George Tabori vornehm zurückgehalten hat. Biermann nennt es „einen herzerfrischenden Skandal: Der Ausländer George Tabori kassiert den Georg-Büchner-Preis. Das liegt nicht gerade im Trend.“ Der Liedermacher nutzt die Gelegenheit, während der Verleihung des renommiertesten und hochdotiertesten deutschen Literaturpreises die Bühne zum Tribunal zu machen. In gewohnt naßforscher, bisweilen rüder Art attackiert der Chefankläger im deutschen Feuilleton „das wohlgenährte deutsche Volk“. Er genieße es „wie einen Kuß in die Seele“, daß in einer Zeit, „da der Staat jeden Steuergroschen braucht, um unsere ostdeutschen Brüderschwestern ruhigzuhalten und in den westdeutschen Wohlstand zu hieven“, die Jury der Darmstädter Akademie „einem besonders frechen Ausländer sechzigtausend Mark Steuergelder in den Rachen“ schmeiße. Das Publikum klatscht, Biermann setzt ihm noch weitere treffsichere Pointen vor. Was er eigentlich sagen, was er anprangern will, geht über so viel Gaudi verloren. Biermanns kritische Singularität, die schon manch schöne, kräftige Akzente gesetzt hat, droht zur Masche zu werden. Der Mann ist ein glänzender Unterhalter, Humor, so scheint Biermann zu denken, ist die höchste Form der Wahrheit. Aber eindringlich ist diese Wahrheitsvermittlung nicht, die kurzen, stakkatohaften Sätze Taboris klingen viel länger nach.

George Tabori wurde von der Darmstädter Akademie „für seine Theaterstücke, seine klärende Prosa und seine engagierte Theaterarbeit“ geehrt. Sein Werk, das neben vielen Theaterstücken — an großen Bühnen zwischen New York, Wien und Sevilla aufgeführt — auch etliche Prosaveröffentlichungen umfaßt, ist nach Ansicht der Juroren gerade für das deutsche Publikum geeignet, ihm „mit Witz und Ironie und doch mit der Leidenschaft des Opfers und der Distanz des Weisen die unheilvolle gemeinsame Geschichte der Deutschen und Juden vor Augen zu führen“. Der Kosmopolit Tabori, der als gebürtiger Ungar an vielen Orten der Welt gelebt, mit Brecht und Hitchcock zusammengearbeitet hat und in den letzten Jahren zwischen Berlin und Wien pendelt, ist ein Avantgardist des Theaters mit einem ausgeprägten Hang zum Subversiven und Anarchischen. Mehrfach wurden seine Stücke zum Affront am sogenannten guten Geschmack, dessen Diktum Tabori sich allerdings nie beugte — was für seinen Mut spricht. In seinem Stück „Kannibalen“ läßt er verhungerte Juden im KZ einen Mithäftling schlachten, in „Jubiläum“ nötigt er ermordete Juden, Zigeuner, Homosexuelle und Geisteskranke, ihr tiefstes Inneres in schmerzhafter Wiederholung zu durchsieben, während er selbst als Clown und Totengräber auf der Bühne herumstapft. In der Farce „Mein Kampf“ wird der Massenmörder Hitler als kränklicher junger Penner und verkannter Künstler, der in einem heruntergekommenen Wiener Nachtasyl haust, dargestellt. Taboris Geschichten sind „ungehörig, verrückt und von einer oft unerträglichen Wahrhaftigkeit“, wie Wolf Biermann sagte. Er kann dunkel und verstörend sein wie Beckett und Kafka, hat aber auch einen Blick für das banale Leben, das er unverfremdet auf der Bühne sich austoben läßt. Indem er banal, trivial und sarkastisch vom Häßlichen, Bösen und Kranken erzählt, will er seinen Zuschauern reale Vorkommnisse nahebringen, die deren Phantasie bei weitem übertreffen. Seine Bühnenkomik vermittelt seine Tragik. Tabori ist ein Menschenkenner, der nicht zum verbitterten Menschenfeind geworden ist.

Die Darmstädter Akademie vergibt an diesem Samstag zwei weitere Auszeichnungen: Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa wird dem Philosophen und Kulturkritiker Günther Anders zugesprochen, „der sein ganzes Leben lang in seiner Unbedingtheit nicht nachgelassen hat, gegen die Beschwichtigungen der Politiker und Tagesschwätzer seine Warnungen in einer Sprache vorzutragen, deren poetische Eindringlichkeit der analytischen Kraft seines Denkens ebenbürtig ist“, wie es im Urkundentext heißt. Der hochbetagte Anders, der seine Heimatstadt Wien seit zehn Jahren nicht mehr verlassen hat und seit über einem Jahr in einem Pflegeheim lebt, läßt seinen Dank durch seinen Verleger übermitteln. Der Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay geht an den Zeit-Theaterkritiker Benjamin Henrichs, der sicher die intelligenteste Rede hält. Er verteidigt seinen Berufsstand gegen den „unaufhaltsam wachsenden Haufen der Servicejournalisten und Kulturjockeys, deren Gewerbe nicht mehr die Kritik ist, sondern der schnelle Verbrauchertip“. Roland Mischke, Darmstadt