In Thüringen verludern die Hirsche

Einst machten harmlose Wilddiebe den SED-Größen Konkurrenz, heute sind gut ausgerüstete Banden in Thüringen am Werke/ Brutal wird das Wild mit Infrarotwaffen niedergemetzelt  ■ Aus Erfurt Henning Pawel

Wenn das selige Weihnachten in der noch seligeren DDR heranrückte, aktivierte der gemeine DDR-Mensch seine Reserven und galoppierte zum Besorgen los. Christi alljährliche Geburt galt schon in der ersten Dezemberwoche als grandios gelungen, wenn es gelungen war, ein Stück Wildsau, eine Rehkeule oder, Gipfel der Seligkeit, gar ein Häschen zu ergattern. Sogar Wilddiebe gab es, deren sich der wildbretsüchtige Ossi bediente. In einem Thüringer Landkreis lebt noch heute der hochbetagte, aber kerngesunde Edwin Herzog (Namen geändert), der seinen Vertrauten um die Weihnachtszeit mitunter einen Hasen, ein Stück Sau oder einen Fasan vor die Haustüre legte.

Edwin Herzog wurde ständig gejagt, von Kripo und Stasi. Aber nie erwischt. Wenn die alljährliche Staatsjagd in Thüringen heran war, Honecker lud das gesamte diplomatische Korps und andere schießwütige Gestalten auch aus der alten Bundesrepublik zum Ballern auf lebende Kreaturen ein, wurde der Wildschütz vorbeugend abgeholt und eingesperrt. Er hatte stets parallel zum offiziellen Ereignis seine eigene Staatsjagd abgehalten und vielen angeschossenen Tieren den Gnadenschuß gegeben. Als er aber am Ende der 70er Jahre dem Wirtschaftszaren Günter Mittag den Mittagsbraten, einen kapitalen Bock, vor der Nase wegschoß, war Edwin wieder einmal reif für den Vorbeugeknast.

Edwin steht noch immer mit der Flinte im Anschlag. Doch er hat schlimme Konkurrenz bekommen. Thüringens Wälder werden gegenwärtig von ganzen Banden bestens organisierter Wilddiebe heimgesucht. Mit auf Geländewagen installierten Suchscheinwerfern und Nachtsichtgeräten rasen die Tierkiller durch die Wälder und richten regelrechte Blutbäder unter den Wildbeständen an. Allein fünf enthauptete Hirschkadaver wurden im Sommer im Raum Eisenach aufgefunden. Erst kürzlich stieß ein Jagdpächter am Ortsausgang des Dorfes Eckarshausen auf den Kopf eines kapitalen Hirsches, wenig später auf die abgebrochenen und damit wertlosen Stangen eines mächtigen Bockes und kurz darauf auf den Aufbruch, Herz, Lunge, Leber und Magen, eines weiteren großen Hirsches. Die gemetzelten Tiere werden nach Ansicht von Fachleuten beim Äsen überrascht, mit Suchscheinwerfern geblendet und abgeknallt.

Unter den naturverbundenen Wäldlern macht sich Empörung und zunehmend der Ruf nach Lynchjustiz breit. Man will dem Beispiel des Kurfürsten Moritz folgen und den ersten Wilddieb, der erwischt wird, einem kräftigen Hirsch zwischen das Geweih binden und diesen dann mit Hunden jagen.

Die Ermittlungsbehörden sind ratlos. Es handele sich, so Hans Jürgen Germerodt, Leiter der Ermittlungsgruppe der Schutzpolizei, um hochkompetente Profis. Trophäen-, aber auch Fleischjäger. Auftragswilderer, die genau wissen, was sie jagen, und die ihren Auftraggebern erstklassige Ware billigst und gewinnträchtig liefern. Sie sind mit modernsten Infrarotwaffen ausgerüstet und gehen brutal auf jede Wildart los.

Ihre Organisation funktionierte bisher völlig fehlerfrei. So wird grundsätzlich nie bei gutem Wetter oder während der Mondphasen gewildert. Die „Wildbahnen“ sind bestens ausgekundschaftet, und bislang ist es nicht gelungen, nur eine einzige Kugel oder Patronenhülse zu finden. Im Kreis Gotha wurden allein im September drei verluderte Hirsche aufgefunden, die grausam angeschossen, verendet waren. Bei Gräfenroda fand man eine Hirschkuh mit herausgeschnittenen Keulen, unterhalb Gehlberg zahlreiche schwerverletzte Schwarzkittel. Verludertes Rehwild wird in Thüringens Wäldern immer mehr zur Tagesordnung, ebenso zahlreiche verwaiste und anschließend verhungerte Kitzen.

Es gibt noch keinerlei Hinweise auf die Schuldigen, aber unter den Einheimischen hält sich hartnäckig das Gerücht, die Wildfrevler kämen von drüben. Die am meisten betroffenen Reviere liegen in Nachbarschaft zu den westlichen Bundesländern. Der Organisationsgrad, die Mobilität und die technischen Voraussetzungen sind von Leuten, die im Osten ansässig sind, einfach noch nicht zu leisten. Die Bevölkerung ist wieder einmal aufgerufen, die Augen offenzuhalten.

Der letzte edle Wilddieb Thüringens, Edwin Herzog, aber flucht. Mit diesen Schindern will er nicht in einen Topf geworfen werden. Wenn er jagt, dann absolut waidmännisch. „Aber wenn jetzt wieder mal alles aufpaßt in den Dörfern“, sagt er verbittert, „diesmal nicht auf die Grenzgänger, sondern auf die Wälder, kann man sich überhaupt nicht mehr auf die Pirsch trauen.“ Edwin hat geschworen, mitzuhelfen, daß die Schurken rasch ihrem gerechten Richter zugeführt werden. Damit die armen Tiere im Wald wieder Ruhe finden. Der edle Wildschütz freilich auch.