Das Nobelkomitee in Oslo hat die Frauen entdeckt: Nach der birmanischen Menschenrechtlerin Aung San Suu Kyi wurde gestern die 33jährige Rigoberta Menchu aus Guatemala mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Begründung des Komitees: „Sie hat eine herausragende Rolle als Anwältin für die Rechte der Eingeborenen übernommen.“ Von Ralf Leonhard

„Die Welt nimmt uns endlich zur Kenntnis“

Vor einiger Zeit sagte sie in einem Saal vor rund 500 amerikanischen Akademikern und Akademikerinnen, von denen einige vorschlugen, Lateinamerika sollte den Begriff der Revolution aufgeben: „Revolution bedeutet für uns erstens, daß uns zugehört wird, zweitens, daß uns Verständnis entgegengebracht wird, und drittens, daß respektiert wird, was wir vorhaben. Niemand von Ihnen hat das in den letzten 500 Jahren gemacht: zuhören, verstehen und respektieren, was wir sagen möchten.“ Daraufhin herrschte Stille im Saal.

Mit vier Ehrendoktorhüten ist die 33jährige Rigoberta Menchu sicherlich die mit den meisten akademischen Ehren ausgezeichnete India Lateinamerikas. Die rundliche, kaum einen Meter fünfzig große Frau, die niemand jemals anders als in ihrer bunten Tracht gesehen hat, bewegt sich in den Gängen des UNO-Gebäudes in New York mit derselben Natürlichkeit wie auf einem zentralamerikanischen Volksfest.

In einem Spanisch, dem man anmerkt, daß es nicht ihre Muttersprache ist, weiß sie selbst zu den kniffligsten politischen Fragen eine kohärente Antwort zu geben. In Insiderkreisen hatte man schon seit Wochen gemunkelt, daß Rigoberta Menchu Tum, stellvertretend für die um ihr Überleben kämpfenden Urvölker des amerikanischen Kontinents, mit dem Friedensnobelpreis geehrt werden sollte. „Unsere Toten, unsere Verschwundenen, unsere ausradierten Dörfer haben nie Aufsehen erregt“, erklärte sie vor wenigen Tagen anläßlich des Treffens indianischer Völker in Managua. „Der Nobelpreis würde den Mantel des Schweigens, der über Guatemala liegt, entfernen. Die Welt würde uns endlich zur Kenntnis nehmen.“

Rigoberta weiß, wovon sie spricht. Als sie vor elf Jahren zum ersten Mal durch Europa geschickt wurde, um Solidarität für ihr Volk zu mobilisieren, fand sie jenseits der Solidaritätskomitees und einzelner Kirchengruppen kaum Zuhörer. Dabei gibt es kaum einen Menschen, der mit mehr Authentizität über die jahrhundertelange Ausbeutung der Indios und die schonungslosen Anti-Aufstandskampagnen der guatemaltekischen Armee berichten kann, der vergleichbar Schreckliches miterlebt und überstanden hat.

Als Angehörige des Volkes der Quiché wurde sie im Dorf Chimel bei Uspantán im westlichen Hochland geboren. Die winzigen Parzellen, auf welche die analphabetischen Kleinbauern durch juristische Tricks oder rohe Gewalt zurückgedrängt wurden, reichen dort nicht einmal zur primitivsten Subsistenz. Zu Tausenden müssen die Indios daher auf den Haciendas an der Küste Lohnarbeit suchen. Schon als kleines Mädchen begleitete Rigoberta ihre Eltern zur Ernte auf die Kaffee- und Baumwollplantagen der reichen Mestizen. „Nicht im Traum hätte ich damals gedacht, daß ich jemals ein Flugzeug besteigen würde.“

Sie weiß zu berichten, wie hundert Indios gemeinsam mit dem Vieh auf einen Lastwagen verfrachtet und an die Küste transportiert wurden, von den Scheunen, wo 400 Erntearbeiter, Männer, Frauen und Kinder durcheinander, Rücken an Rücken auf harten Pritschen schlafen mußten. Ein älterer Bruder starb, als er während der Spritzarbeiten aufs Feld geschickt wurde, ein jüngerer ging an Unterernährung zugrunde. Halbwüchsig wurde Rigoberta als Dienstmädchen in die Hauptstadt geschickt, wo sie lernte, daß die Hunde der Reichen besser ernährt werden als das indianische Personal. Und sie machte erstmals mit politischer Repression Bekanntschaft, als ihr Vater Vicente, der die Bauern zu organisieren begonnen hatte, ins Gefängnis gesteckt wurde.

Sie selbst begann mit 18 Jahren, im damals noch geheimen Komitee für die Bauerneinheit (CUC) mitzuarbeiten und beschloß, Spanisch zu lernen. Aber nicht, um sich anzupassen, wie viele andere ihres Volkes, sondern um den Ausbeutern besser gewachsen zu sein. Es war die Zeit, als progressive Geistliche ihre Stimme gegen die himmelschreiende Ungerechtigkeit erhoben und den Indios mit dem Katechismus beibrachten, daß diese Ordnung nicht gottgewollt sein könne. Die Katholische Aktion und das CUC waren die ersten Organisationen, die den Kleinbauern die Augen öffneten. Nicht zum bewaffneten Weg wurden sie ermuntert, sondern zum organisierten Zusammenschluß, zum zivilen Protest, zur gerichtlichen Klage.

Lange bevor der erste Guerillero in den Dörfern der Quiché auftauchte, machte die Bevölkerung mit den Militärs der Regierung Bekanntschaft, die „Kommunisten und Kubaner“ suchte. Rigobertas Bruder Petrocinio, der mit sechzehn bereits Organisationsaufgaben übernahm, wurde denunziert, von Soldaten verschleppt, tagelang gefoltert, verstümmelt und zuletzt als Abschreckung vor den Augen der Angehörigen lebendig verbrannt.

Rigobertas Vater Vicente Menchu leitete wenige Monate später die friedliche Besetzung der spanischen Botschaft und kam in den Flammen um, als die Militärs das Gebäude samt 39 Besetzern und Botschaftspersonal in Brand steckten. Als auch Rigobertas Mutter den Soldaten in die Hände fiel und unter unbeschreiblichen Torturen starb, flüchtete die damals 21jährige Frau in den Untergrund und konnte sich 1981 nach Mexiko retten.

Seither leistet Rigoberta Menchu unermüdliche Lobbyarbeit und wurde zu den im Ausland bekanntesten Persönlichkeiten Guatemalas. Ihr Buch „Rigoberta Menchu. Leben in Guatemala“ ist auch auf deutsch erschienen. Sie ist Mitglied des CUC-Vorstandes und erhielt zahlreiche internationale Auszeichnungen. Die gewählte, aber unter der Kuratel der Armee stehende Regierung Vinicio Cerezo fürchtete ihren Einfluß so sehr, daß sie 1988 bei ihrer ersten Einreise nach Guatemala von vierhundert Polizisten empfangen und festgenommen wurde. „Nur dem Druck der internationalen Öffentlichkeit ist es zu verdanken, daß wir wieder freikamen.“

Erstmals für den Friedensnobelpreis im Mai 1989 wurde sie von der Sozialistischen Partei Italiens vorgeschlagen. Die Friedensnobelpreisträger Bischof Desmond Tutu aus Südafrika und Adolfo Perez Esquivel aus Argentinien sowie hunderte weitere Persönlichkeiten und Organisationen hatten die Nominierung unterstützt.

Ganz im Gegenteil zum guatemaltekischen Militär, dessen Militärsprecher Julio Alberto sich nicht entblödet hatte, die mögliche Preisverleihung als „politischen Sieg für die Guerilleros“ zu brandmarken.

Die 1,8 Millionen Mark jedenfalls, die sie am 10.Dezember mit dem Friedensnobelpreis erhält, so erklärte Rigoberta Menchu gestern gegenüber der Presse, wolle sie in den Aufbau einer Stiftung zum Schutz der indianischen Ureinwohner Lateinamerikas stecken. Sie soll den Namen ihres Vaters Vicente Menchu tragen.