Wer in der Weltwirtschaft scheitert, ist selber schuld

Zum „Merkur“-Band „Gegenmoderne? Fundamentalismus, Multikulturalismus und Moralische Korrektheit“  ■ Von Elmar Altvater

Bislang hat der Merkur als eine „deutsche Zeitschrift“ für europäisch zvilisierte Geister eher fein- und tiefsinnige Beiträge zu den Fragen der Zeit unter das intellektuelle Publikum gebracht. Daß nun ausgerechnet in einer Nummer über „GegenModerne“ und Fundamentalismus (September/Oktober 1992) Merkur-Autoren mit Dumdumgeschossen herumballern, hat vielleicht mit dem Thema zu tun. Haben sie sich doch aufgemacht, die letzten Bastionen zu schleifen, die dem endgültigen Sieg der Moderne und der ökonomischen Rationalität des Kapitalismus über die linken Flausen von anno dunnemals mental noch im Wege stehen. Getroffen werden sollen einerseits die „fahrlässig dummen“ ökonomischen Fundamentalisten, die auf Kapitalismus- Kritik immer noch nicht verzichten wollen oder eine „kaum zu überbietende“ grüne Naivität in Sachen harter Ökonomie an den Tag legen (Merkur-Autor Scherf). Andererseits geht es gegen die „dummdreist moralisch arroganten... edlen Seelen“ aus dem „intellektuellen Stillkreis-Milieu“ mit „zerebralem Leistungsabfall“ und „Unmittelbarkeitshuberei“ (Autor Kohlhammer), die immer noch der irrigen Auffassung anhängen, in der gegenwärtigen Weltwirtschaft gäbe es so etwas wie Ausbeutung.

Der Tobak ist stark, der da verstunken wird. Aber seitdem am Kapitalismus „kein Weg vorbeiführt“ – wie uns nicht nur Merkur- Autoren, sondern viele andere aus dem neulinken Milieu spätestens seit 1989 eintrichtern – und man ihn daher „bejahen“ soll, ist Affirmation zum ordentlichen Geschäftsgebaren in intellektuellen Diskursen aufgerückt. Kritik, Systemkritik gar, ist megaout, sie gilt, so die Botschaft einiger Merkur- Artikel, als eine fundamentalistische Attacke auf die rationale und emanzipatorische Seite der Moderne.

Der Herrensuada von Scherf und Kohlhammer kann schwerlich mit einem Knigge intellektueller Diskurse begegnet werden. Aber auch eine seriöse Auseinandersetzung mit den Argumenten fällt schwer, da ja auf einen groben Klotz ein grober Keil gehörte. Das achselzuckende „so what?“ ist allerdings auch fehl am Platz, da die erwähnten Autoren dem Zeitgeist huldigen, der da unter dem „Mantel der Geschichte“ mieft. Die Welt ist zwar nicht perfekt, so lautet ihre Candidesche Botschaft, aber sie ist unter den möglichen immerhin die beste, und das sollten die Kritiker des Kapitalismus zur Kenntnis nehmen.

Theorie als Kapitulation vor dem Faszinosum empirischer Daten

Theorie muß mithin der modernenseligen Weltsicht angepaßt werden. Sie wird also erstens als Kapitulation vor dem Faszinosum empirischer Daten betrieben, zweitens als Realtheorie der vergleichenden Länderverachtung verstanden, drittens in der Reichweite radikal auf die Sichtweite des nächstgelegenen Kirchturms reduziert, und viertens müssen die theoretischen Resultate mit der wohlverstandenen Realpolitik der Regierungen von Ländern mit „OECD-Profil“ (Dieter Senghaas) kompatibel sein.

Mit Daten läßt sich fast jede Hypothese begründen und widerlegen – bis zum nächsten Datenreport der spezialisierten Datensammelstellen oder quantitativen Forschungsresultaten der drittmittelfinanzierten Betriebsnudeln in der arbeitsteilig organisierten Wissenschaftsfabrik. Kohlhammer illustriert mit Daten eine These, die ihrerseits nur aus der Verschiedenheit von länderspezifischen Daten gewonnen werden konnte: Daß es nicht möglich sei, von „der“ Dritten Welt zu sprechen. Daß es erfolgreiche und weniger erfolgreiche Entwicklungsökonomien gebe. Daß folglich für alle gleiche Weltmarktzwänge nicht existierten. Also muß es wohl an den nationalen Entwicklungsstrategen liegen, an den Fehlern von nationalen Eliten etc., wenn die einen die Schwelle des nördlichen Industrieländerclubs erreichen und die anderen in der schmuddeligen Südstadt bleiben müssen.

Das globale Dorf ist eben keine Einheit, sondern eine Vielfalt von Nationalstaaten. Verantwortung endet an den nationalen Grenzen, in der gegenwärtigen Generation, zu Hause. Und so obsiegt letztlich der gesunde Menschenverstand mit allen seinen Vorurteilen. Die sind bei Kohlhammer im geistreichen Merkur von keiner besseren Qualität als in den Sprüchen der Asylrechtsdemonteure: Wenn es uns gutgeht, ist das unser Bier. Wenn es euch schlecht geht, dann faßt euch ans eigene Portepee. Wir haben miteinander nichts zu tun. Bleibt, wo ihr seid!

Nur: Das ist der klassische Zirkelschluß: was zu beweisen war, steckte bereits in der Definition. Er ist freilich geradezu eine Grundvoraussetzung dafür, daß Theorie als Realtheorie betrieben werden kann. Nur noch nationale Einheiten, für die es entsprechende Daten gibt, zählen, und Theorie muß daher vergleichend durchgeführt werden. Wie im Laubenpieperverein prämiieren unsere Theoretiker die Pieper mit den dicksten Zwiebeln und tadeln jene, bei denen nichts wächst. Selber schuld. Unfähig. Hätten sie doch pflanzen sollen wie wir, die Bauern mit den dicksten Kartoffeln. Aber statt dessen, so Merkur-Autor Kohlhammer, üben sie auch noch Druck auf andere aus, verwandeln gar die UNO in ein „Subsystem der kleptokratischen Drittwelt-Verteilungssysteme“! Das müßte doch mal untersucht werden, meint Kohlhammer feinsinnig, um fortzufahren: „Über Armut und Flüchtlinge, Bürgerkrieg und Hungersnot... zu verfügen [!?], kann ein entscheidendes Druck- und Erpressungsmittel“ werden. Gegen wen? Gegen uns!

Dagegen wird man sich wehren müssen. Durch eine Festung Europa oder durch Wohlstands- Chauvinismus und ein rassistisches „Ausländer raus!“ derjenigen, die Schlüsse direkt in die Tat umsetzen und differenzierte Reflexionen überflüssig und hinderlich finden. Die Praxis holt die Theorie ein. Angesichts der Logik der realtheoretischen Argumentation – wie expressis verbis bei Kohlhammer – ist die Verbalkaskade der Merkur- Herausgeber – „Das Widerwärtige und Dumme von Ausländerfeindlichkeit muß den Lesern dieser Zeitschrift nicht erklärt werden“ – nichts anderes als ein deprimierender Ausdruck des hilflosen Antirassismus in der neuen Bundesrepublik. Moralische Menschen in theoretischer und politischer Totalkonfusion.

Diese Verwirrung hat auch damit zu tun, daß die theoretische Reichweite der Realtheoretiker radikal verkürzt ist. Erst, wenn man den Planeten Erde in Länder und Regionen verhackstückelt hat und sie nicht mehr als „Eine Welt“ wahrzunehmen braucht, kann vom Ländervergleich Einsicht in die Weltläufte erwartet werden. Alle Anstrengungen laufen darauf hinaus, den Wald als eine Pluralität von einzelnen Bäumen zu redefinieren. Die einen sind höher als die anderen, haben sich besser gegen die Sonne gestreckt. Doch der Sonnenschein, wer wollte das bezweifeln, ist für alle gleich.

Lernen von Europa mit pathologischem Ausgang?

Wer nicht müde wird, die Lehren Europas den Ländern Afrikas, Asiens, Lateinamerikas anzudienen, müßte vorschlagen, gerade die ökonomisch im Zuge der Industrialisierung überschüssige Bevölkerung abzuschieben. Ohne die Millionen Emigranten aus Irland und Skandinavien, aus Deutschland und Italien, aus den europäischen Ostgebieten in die Siedlungskolonien der beiden Amerikas, Afrikas, Australiens wäre die Industrialisierung in Europa weniger glatt verlaufen. Vielleicht wäre die Modernisierung, auf die wir heute so stolz sind, sogar gescheitert. Wo soll heute die durch Industrialisierung in der „Dritten Welt“ überschüssig gewordene Bevölkerung hin? Siedlungsräume, die weißen Flecken auf der Landkarte, gibt es in der eng gewordenen Welt nicht mehr. Europa zieht die Brücken hoch, die USA bewehren den Rio Grande del Norte mit Nato- Draht-Verhauen. Nein, Entwicklung in allen Teilen der Welt findet im Wechselspiel zwischen den verschiedenen Weltregionen statt. Das war seit der Heraufkunft des modernen Kapitalismus immer so, und das wird so bleiben. Allerdings müßten diesem Sachverhalt auch die Theorien angemessen werden.

Kurzfristig härter als die ökologischen sind freilich die monetären Restriktionen in der Weltwirtschaft. Wenn ganze Kontinente Jahr für Jahr zwischen 3 und 8 Prozent des BIP als Schuldendienst transferieren müssen, und wenn – um ein besonders trübes Argument Kohlhammers aufzuklären – der Schuldendienst der achtziger Jahre die ursprünglich einmal gezahlte Hauptsumme des Kredits übersteigt, dann ist dies ein Nettoressourcentransfer aus armen in reiche Weltregionen. Deutschlands Belastung durch die Reparationszahlungen aufgrund des Versailler Vertrags machten 1924 bis 1932 gerade 2,5 Prozent des Volkseinkommens aus – und dies erschien damals aufgeklärten Ökonomen wie Keynes als entschieden zu hoch und als Gefahr für die soziale und politische Stabilität. Womit er ja recht behalten sollte.

Dennoch ist dies nicht der zentrale Punkt. Ob (monetärer und realer) Ressourcentransfer Ausbeutung signalisiert, ist nämlich einigermaßen unerheblich. Ausbeutung gehört zum normalen Funktionieren kapitalistischer Ökonomien. Ausbeutung hinwegdefinieren zu wollen, müßte konsequenterweise zum Ergebnis führen, daß der Kapitalismus, an dem doch „kein Weg vorbeiführt“, gar nicht mehr existiert. Eine wahrhaft theoretische Revolution, die mit der Ausbeutung den realen Kapitalismus hinwegdenkt.

Damit sind wir zum Kern vorgestoßen. Der von Europa vorexerzierte Weg ist nicht von allen Nationen nachzuholen. Einmal verbrauchte Ressourcen stehen ein zweites Mal nicht zur Verfügung, das einmal in die Stratosphäre gelangte FCKW hat mehr als 100 Jahre Zeit, um Ozon zu killen, einmal eroberte Wettbewerbspositionen werden hartnäckig verteidigt, und zwar nicht nur gemäß den Regeln des Freihandels und der komparativen Kostenvorteile. Industrialisierung und Moderne sind ein „positionelles Gut“, dessen Gratifikationen, dessen Annehmlichkeiten und Warenfülle, dessen Freiräume zur Entfaltung der Individualität nur so lange in Anspruch genommen werden können, wie nicht alle Welt darüber zu verfügen vermag. Ob durch Ausbeutung charakterisiert oder nicht – Entwicklung und Unterentwicklung sind die Kehrseite der gleichen Medaille, der kapitalistischen Weltwirtschaft. Wer Entwicklung will, wird also um eine Änderung der weltwirtschaftlichen Strukturen, um eine Energiewende, um Transformationen der Produktionsstruktur und um Veränderungen der Konsummuster bei uns nicht herumkommen.

Um diesen bitteren Sachverhalt einen Wattering theoretischer Kurzsichtigkeit, falscher Ratschläge und ideologischen Schmuses plaziert zu haben ist die eigentliche Leistung der Moderne- und Europäische-Rationalität-Apostel im 'Merkur' und anderswo.. Kohlhammers Artikel kann durchaus auch als Beitrag zur Asyldebatte gelesen werden. Jede Gesellschaft und jeder Mensch in ihr könnte ja europäische Standards realisieren, wenn beide nur lernfähig wären. Kein Anlaß für Migrationsströme also. Und wenn sie dennoch abhauen und „zu uns“ kommen wollen, dann ... Aber das muß man Merkur-Lesern, wie uns die Herausgeber versichern, nicht ausdrücklich erklären.