Der moralische Notstand

Wie Politiker Ressentiments hoffähig machen oder: Zuflucht zum unheilvollen Junktim von primitiver Sündenbockprojektion und nationaler Selbstgerechtigkeit  ■ Von Horst-Eberhard Richter

Als 1989 Aids als Angstthema die Medien beherrschte, erklärten die seinerzeit repräsentativ befragten Bundesbürger, daß ihnen Asylbewerber, auch Zigeuner, noch immer lieber seien als Homosexuelle, Fixer und Prostituierte. Noch waren die Aids-„Risikogruppen“ die scheinbaren Verfolger der anständigen Deutschen, denen bayerische Politiker Schutz vor Viren- Überschwemmungen durch diverse Ausgrenzungspläne anboten. Dann wurde die Sündenbock- Rolle mit den Flüchtlingen und Asylbewerbern neu besetzt. Die Regierung half bei der Uminszenierung ungeniert mit.

Der Leiter der Verfassungsabteilung des Bonner Innenministeriums beschwor im Sommer 1991 in einem Text die Gefahr einer Überfremdung der Heimat und phantasierte, die Deutschen könnten ihren Wir-Zusammenhang auflösen und ihre kulturellen Wertvorstellungen preisgeben. So wurde eine große Mehrheit, bisher frei von allem spontanen Argwohn gegen Ausländer und Flüchtlinge, eindrücklich belehrt, sich von dieser neuen Virus-Spezies vital gefährdet zu fühlen.

Wer also war schuld, als 1991 die Molotowcocktails und Steine zu fliegen begannen? Doch scheinbar die Opfer selbst, die sich hinterlistig zum Mißbrauch des Artikel16 eingeschlichen hatten, indirekt verleitet von der SPD und ihren Bundesgenossen, die eben an diesem Artikel noch nicht rütteln lassen wollten. Jedenfalls hörten sich zahlreiche Verlautbarungen aus der Union so an, die lange Zeit weit mehr Entrüstung auf die Verteidiger eben dieses Artikels als auf die ausländerfeindlichen Brandstifter und Messerstecher, geschweige denn auf die 36 Prozent lenkten, die inzwischen Verständnis für den Rechtsradikalismus im Zusammenhang des Flüchtlingsproblems bekundeten.

Gleich nach Hoyerswerda, Hünxe und den Folgeanschlägen wäre der große gemeinsame Aufschrei über die fremdenfeindliche Gewalt fällig gewesen. Immerhin gab es – schon vergessen? – genau am 9.November 1991, auch bereits im Berliner Lustgarten, eine bedeutende ungestörte Demonstration der Empörung und der ehrlichen Solidarisierung mit den Bedrohten und Opfern. Es kamen 80.000 – mit Medienhilfe wären es sicher 300.000 geworden – Menschenrechts- und Friedensgruppen, Gewerkschafter, Juden, Christen, Afrikaner, Kurden, Türken, Iraner. Im Aufruf hieß es: „Warum scheint der Politik die Abwehr der Flüchtlinge wichtiger als deren Schutz vor blutigem Terror?“

Aber es schien eben nicht nur so. Die Brandanschläge waren der Politik peinlich. Zu verlockend waren indessen die steigenden Flüchtlingszahlen, um sie nicht zur Ablenkung des Frusts und der Aggressionen zu mißbrauchen, die sich durch mannigfache interne soziale Spannungen und Ängste angestaut hatten. Mit Hilfe des „Asylanten“-Feindbildes ließ sich – fürs erste – die Illusion nähren, mit der Revision des Artikel16 würde der Flüchtlingsstrom gestoppt, der Arbeitsmarkt kuriert, die Wohnungsnot behoben und das gestörte Wir- Gefühl zwischen Ost und West endlich hergestellt werden können.

Die zentrale Frage, seit der offiziellen Vereinigung dringend zu beantworten, lautet klipp und klar: Bedient sich das seines Satelliten- Korsetts entledigte zweigegliederte Deutschland zur Selbstbestimmung der Heilungskräfte aus ehrlicher Verarbeitung seiner schmerzlichen Erinnerungen, oder sucht es seine neue Eigendefinition über die Regression zu wiederbelebtem nationalen Ressentiment? Vertrauen wir auf die Kraft, interne soziale Probleme und Konflikte in selbstkritischer, friedlicher Kooperation zu überwinden, oder nehmen wir erneut zu fatalen paranoiden Konzepten Zuflucht, zum unheilvollen Junktim von primitiver Sündenbockprojektion und nationaler Selbstgerechtigkeit?

Zu lange hat es gebraucht von Hoyerswerda bis zu dem vom Präsidenten gut gemeinten und überfälligen, aber nur halb gelungenen Läuterungsritual vom 8. November 1992 im Berliner Lustgarten. Zu lange und zu passiv hat man die Gewalt eskalieren lassen. Zu deutlich mußte erst das ausländische Entsetzen Motivationshilfe leisten. Zu grotesk kontrastierte Kohls gerade erst proklamierte Staatsnotstandsformel mit der Sorge über den eigentlichen moralischen Notstand, die im Lustgarten ihren überzeugenden Ausdruck finden sollte. Um so mehr ist jetzt die SPD gefordert, aus dieser allzu begründeten Sorge eindeutige politische Konsequenzen zu ziehen und damit manche aufgekommene Zweifel an der eigenen Standfestigkeit noch zu guter Letzt unmißverständlich zu widerlegen.

Der Autor ist Psychoanalytiker und Professor in Gießen