Bewältigungs-Kleinklein

Museumsdidaktiker, Holocaust-Beamte, ABMler und streitende Historiker inszenieren ein Vergangenheits-Potpourri für jedermann  ■ Von Götz Aly

Nicht nur die Formen des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus haben sich während der letzten Jahrzehnte in Deutschland vervielfältigt. Auch innerhalb der Literatur zur Zeitgeschichte haben sich verschiedene Zweige etabliert, die kleinteilig und in scheinbarer Unabhängigkeit voneinander ihr jeweiliges Stückchen ausgewählter Historie bearbeiten. Vollkommen aus dem Blick geraten scheint dabei der deutsche „Historikerstreit“ der achtziger Jahre, in dem es um die (Neu-)Bewertung der nationalsozialistischen Verbrechen im Verhältnis zu den stalinistischen ging: die Historiker- Szene, eifrig ihren Forschungen ergeben, debattiert nicht mehr über Essentials, die Fronten sind erstarrt. Mit dem Gedenken, aber auch mit dem Ausblenden wesentlicher Fragen zum Nationalsozialismus befaßt sich der folgende Text – um einen Anstoß zu geben, die Debatte mit veränderter Zielrichtung wieder aufzunehmen.

Der Zeitpunkt ist günstig: Nach dem Ende des weltweiten Lagerdenkens und mit gehörigem Abstand zum Ende der NS-Zeit könnte man sich heute den Fakten zuwenden und – vor allem – den übergreifenden geschichtlichen Zusammenhängen. Das Gegenteil findet statt.

Es macht wenig Sinn, wenn über die Konzeptionen Hitlers oder Himmlers eine Literatur gedeiht und über die Konzeptionen der damaligen deutschen Eliten eine andere. Klar ist doch, daß sie zusammen – und nur zusammen – zu dem führten, was Juristen später mit dem Kürzel „NSG“ bezeichneten und was Hannah Arendt so eindrucksvoll als „Bündnis zwischen Mob und Elite“ analysierte.

Heute werden die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen als ganz unterschiedliche Taten wahrgenommen mit jeweils unterschiedlichen Vorgeschichten. Sie wurden von dem abgespalten, was als „nationalsozialistischer Alltag“ und seit Schoenbaum und Dahrendorf in unterschiedlicher Weise – von Zitelmann und anderen neuerdings affirmativ – als „Modernität“ dieses Systems beschrieben wird. Die Verbrechen selbst wurden in der Nachkriegsliteratur immer detaillierter, aber auch immer isolierter dargestellt. Es gibt gegenwärtig Experten für die Politik der Zwangsarbeit und solche für die Großraumpläne, Spezialisten für die EinsatzgruppeA und solche, die sich ganz auf die Heeresgruppe Mitte konzentrieren, andere kennen jedes Datum der Euthanasie- Verbrechen, wieder andere die Bauleiter eines Vernichtungslagers besser als ihre nächsten Verwandten.

Diese Verengungen bestanden nicht immer: Die amerikanischen Ankläger und Richter in Nürnberg hatten noch eine Vorstellung vom Gesamtzusammenhang der deutschen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, als sie hintereinander weg einfach zwölf Themen und Personengruppen anklagten und über sie zu Gericht saßen: von den Ärzten bis zu den Staatssekretären, von den Südost-Generälen bis zu den Planern der Zwangsumsiedlungen, von Krupp bis Ohlendorf.

Noch während des Dritten Reiches hatte Franz Neumann nach einem Begriff dieser Herrschaft gesucht und ihn vielschichtig im „Behemoth“ formuliert; auch Ernst Fraenkel, Hannah Arendt, Victor Klemperer versuchten auf ihre jeweils ganz persönliche, aber dennoch äußerst komplexe Weise das zu beschreiben und zu verstehen, was sich vor ihren Augen vollzogen hatte. Offensichtlich ist der zeitliche Abstand in der Geschichtsschreibung nicht unbedingt als Gewinn anzusehen.

Das später üblich gewordene Abspalten einzelner politischer Aspekte des Dritten Reiches ist Teil der – nach diesen Verbrechen wohl unvermeidlichen – Fähigkeit zur Verdrängung im Deutschland danach; aber auch Teil der – wohl ebenso unvermeidlichen – politischen Instrumentalisierung des Themas „Nazi-Deutschland“ in einer Welt, die noch jahrzehntelang unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Aggression leiden mußte. Viele einzelne Menschen leiden noch immer darunter. In eher banaler Weise entspricht die heute fast durchweg übliche, immer engere thematische Eingrenzung der Nationalsozialismus-Forschung auch den Bedürfnissen und Möglichkeiten der einzelnen Wissenschaftler, der Förderungspraxis und dem Betriebsklima der scientific community.

Das Bewältigungs-Kleinklein führte zu einer seltsamen Blüte des (west)deutschen Gedenkstättenwesens. Überall schossen in den siebziger und erst recht in den achtziger Jahren Gedenksteine, Mahn- und sogenannte Denkorte aus dem Boden, begleitet von jeweils passenden Bildungsmaßnahmen: Hier wurde der Juden einer Stadt gedacht, dort den italienischen Militärinternierten oder der deutschen Deserteure; hier der ermordeten Säuglinge osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen, dort eines prominenten Pazifisten, des einfachen Priesters oder des kommunistischen Opfers eines Sondergerichts.

Ganze Berufsgruppen, einzelne Universitäten und Institute, ja sogar das Justizministerium stellten sich ihrer Geschichte. Und der wandernde Ex-Parteigenosse und Bundespräsident Karl Carstens hatte die deutschen Schüler schon ganz am Anfang der Bewältigungswelle per Wettbewerb im Heimatboden nach den Spuren der Schreckensherrschaft buddeln lassen. Man organisierte Projekte über den Nationalsozialismus in Bayern und im „Mustergau Hamburg“... Jedem das seine!

Jeder gedachte eben so, wie es seinen politischen, biographischen und moralischen Prioritäten entsprach. Dazu paßt die 1991 feierlich vollzogene Gründung einer „Arbeitsstelle zur Vorbereitung des Frankfurter Lern- und Dokumentationszentrums des Holocaust“, angesiedelt beim „Dezernat für Freizeit und Kultur“. In Kreisen der Bewältigungsbeamten und Gedenkstättenpädagogen hat sich dafür schon eine hübsche Abkürzung eingebürgert: Im branchenüblich getragenen Tonfall spricht man inzwischen kurz und einfach vom „LDZ“. Irgendwie ist das wichtige Wörtchen Holocaust in den bildungspolitschen Mühlen verschwunden – noch ehe das Zentrum überhaupt existiert. Was unterm Strich – falls der Frankfurter Stadtkämmerer überhaupt weiter mitspielen kann – bleiben wird, sind ein paar Planstellen, Rollenspiele und curriculare Verfahrensweisen, Bürokratie und Beiräte.

Das bis ins Groteske diversifizierte Angebot des Erinnerungs- Betriebs hat seine Tücken. Dennoch sollte es nicht einfach belächelt werden. Die Ergebnisse sind insgesamt beachtlich, und die lokalgeschichtliche Konkretion der Erinnerung hat viel bewirkt. Zum Beispiel erweist es sich unter den neuen politischen Konditionen als ernsthafter Mangel, daß für das politische Zentrum des nationalsozialistischen Staates, die künftige deutsche Metropole Berlin, bis heute keine angemessenen lokalgeschichtlichen Betrachtungen für die Jahre 1933 bis 1945 existieren – anders als für Stuttgart, Passau oder Waldeck!

Den Pädagogen ist das Exempel wichtig. Es macht Geschichte übersichtlich, vermeintlich leichter faßbar. Ob dadurch mehr begriffen wird, sei dahingestellt. Aber Pädagogen sind dankbare Abnehmer und Auftraggeber für die Fast- food-Produkte, die die deutsche Zeitgeschichtsforschung zunehmend produziert. Es entstand ein Perpetuum mobile von Aufträgen, Projekten und Projektchen, Zeit- und ABM-Stellen, Symposien und Vortragsreihen – von pädagogisierender Geschichtsschreibung und geschichtsfixierter Pädagogik.

Das schnell zusammengestellte Sammelbändchen, der Ausstellungskatalog, der sogenannte Begleitband sind der etwas kurzatmig-hechelnde Ausdruck dieses Zustands. Möglichst hochtrabende Titel gehören zum geschäftigen Klappern – zum Beispiel: „Der historische Ort des Nationalsozialismus“, der aber auf diese Weise und mit Hilfe einiger beliebiger Aufsätzchen nie und nimmer gefunden werden wird. Die Beteiligten sind fast immer engagierte, wohlmeinende Leute, sie haben unzählige Widerstände überwunden, viel Energie investiert. Nach dem ausländischen Echo zu schließen und gelegentlich gegen ihre erklärte Absicht, machten sie sich um die Bundesrepublik Deutschland verdient.

Das kann man von den anno 1986/87 streitenden deutschen Chefhistorikern kaum sagen. Rückblickend erscheint der „Historikerstreit“ als merkwürdiger Anachronismus. Aber er wirkt bis heute nach: Die Diskussionsverhältnisse sind seither gefriergetrocknet, die Mauern der verschiedenen Lager noch zusätzlich bewehrt.

Eigentlich war nicht viel geschehen: Der Ostpreuße Andreas Hillgruber hatte sich im Alter und kurz vor seinem Tod zu jener Art von Betroffenengeschichtsschreibung hinreißen lassen, die andere in Mode gebracht hatten. Hillgruber hatte die Opferperspektive des Königsberger Gymnasiasten eingenommen, dessen Vaterstadt am Ende des Krieges untergegangen war. Darüber hatte er auf seine Weise reflektiert: Recht merkwürdig – aber Betroffenen-Geschichtsschreibung kann eben zu allerlei, oft nur noch psychologisch deutbaren Absonderlichkeiten führen. Geschichtsrevisionismus ließ sich Hillgruber jedoch nicht zuschulden kommen.

Geschichtsrevisionismus ist, wenn Dieter Rebentisch den Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers, zum unwissenden Unschuldslamm macht und die Nachkriegs-Rechtfertigungen der am Völkermord beteiligten deutschen Elite ununterbrochen als seriöse Quellen zitiert; Geschichtsrevisionismus ist, wenn an angesehenen Lehrstühlen halbseidene Göring- Biographien verfaßt werden; latenter Geschichtsrevisionismus ist es auch, wenn wichtige Werke zur Institutionsgeschichte des Dritten Reiches in aller Regel 1940 enden.

Nichts davon bei Hillgruber. Sein Gesamtwerk trägt wesentlich mehr zum Verstehen der nationalsozialistischen Politik und der Strategie Hitlers bei als etwa das Gesamtwerk Eberhard Jäckels. Der jedoch stand im Historikerstreit auf der „richtigen“ Seite. Fast scheint vergessen, daß er jener deutsche Professor war, der – „Schtonk“ läßt herzlich grüßen! – dabei half, die „Hitler-Tagebücher“ hochzujubeln und der Kujaus „Hitler-Gedichte“ wissenschaftlich edierte. Das geschah nicht aus Versehen, sondern weil er sich auf eine ganz und gar falsche, vielfach widerlegte These eingelassen hatte – die alleinige, „intentionalistische“ Schuld Hitlers am Judenmord. Wir wollen nicht nachtragend sein: Die Sünden, die die einen im Alter begingen, ließen sich andere in jüngeren Jahren zuschulden kommen. Auch Jäckel hat bedeutende Verdienste, und nicht nur als ausgesprochen kenntnisreicher Fernsehpädagoge.

Der andere Bösewicht im Historikerstreit war Ernst Nolte. Mitten in die bald darauf zerronnene Politik des „Ost-West-Ausgleichs“ und der „Annäherung“ hinein hatte er ein Buch publiziert, das die Nazi-Verbrechen an den stalinistischen Verbrechen maß und relativierte, die Gulags zur Voraussetzung der KZs machte. So schräg, falsch und revisionistisch die mit Recht angegriffenen konkreten Passagen sind, so klar ist doch auch, daß die Grundthesen des „Europäischen Bürgerkriegs“ heute – fünf Jahre nach dem Erscheinen – anders gelesen und diskutiert werden müßten. Noltes Fehler und Verharmlosungen sind zurückzuweisen. Zu streiten aber wäre mit ihm in erster Linie über den Begriff der „asiatischen Tat“. Also darüber, ob die Politik und Praxis der Massenvernichtung eine außereuropäisch-„asiatische“ Erfindung ist oder nicht viel eher die Entfesselung der technischen und bürokratischen Möglichkeiten der abendländischen Moderne von jedweder demokratischen und moralischen Einbindung, und zwar auch in der stalinistischen Sowjetunion.

Nolte versuchte, den Holocaust aus der Kontinuität der deutschen und europäischen Geschichte herauszunehmen. Das ist der zentrale Punkt seiner geschichtsrevisionistischen Aktivitäten. Doch laufen auch die moralisch engagiertesten Kritiker des Nolteschen Revisionismus Gefahr, den Holocaust aus

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der Geschichte des Abendlandes herauszudefinieren, wenn sie ihn als „schwarzes Loch des Verste

hens“ überhöhen und zugleich verharmlosen, wie etwa der Essener Historiker Daner Diner. Beide Varianten sind für die deutsche Gegenwart recht gemütlich. Die eine paßt für die konservativ-nationalen Kreise, die die SED gerne mit der NSDAP gleichsetzen, die andere Variante ist für die Linksliberalen gut, die Begriffe wie „Modernisierung“ oder „Rationalität“ normativ positiv besetzen und denen daher eine black box Auschwitz allemal lieber ist als ein Völkermord, der sich als herrschaftsrational und ökonomisch kalkuliert erweist.

Was Nolte betrifft, so sollte vor allem genau analysiert werden, ob sich Stalin die wissenschaftlichen und ideologischen Grundlagen für die Politik der Zwangskollektivierung und die damit verbundenen Massenvernichtungen und Zwangsumsiedlungen vielleicht doch nicht aus seinen „asiatischen“ Erfahrungen, sondern im christlichen Abendland, also im Westen, holte, wofür es eine Fülle von Anhaltspunkten gibt.

Die beiden totalitären Großsysteme sind nicht nur hinsichtlich Architektur und Propagandamethoden vergleichbar, der Vergleich kann sich nicht nur auf die Organisationssoziologie der jeweiligen Staatsapparate und Parteien beschränken.

Es geht darum, zu beschreiben, wie beide Systeme ihre gesellschaftssanitären Utopien umsetzten, wie sie den Faktor Zeit, den Kompromiß, den halbherzigen, zögerlichen Reformismus vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Vorstellungen von ökonomischem und sozialem Fortschritt gering achteten. Wie sie die Zielkonflikte, die ihre Konzeptionen – insbesondere das Tempo der Umsetzung – produzieren mußten, immer wieder mit Hilfe von Raub und Enteignung „lösten“. Wie sie Abermillionen Menschen um ihr Lebensglück und ihre Existenz brachten, sie – nach unterschiedlichen Kriterien! – für minderwertig erachteten und schließlich zu Millionen ermordeten. So ist es durchaus angemessen, wenn die nach dem Krieg verfaßten Erzählungen und Romane von Isaac B. Singer das europäische Zeitalter der Lager insgesamt reflektieren – aus der Perspektive derer, die überlebten und später in die Vereinigten Staaten einwandern konnten.

Man wird bei der vergleichenden Untersuchung der deutschen und der sowjetischen Zwangsumsiedlungs- und Vernichtungspolitik Ähnlichkeiten herausfinden, Unterschiede und Gegensätze.

Doch kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, daß die Ermordung der europäischen Juden durch die Deutschen auch Teil einer bevölkerungspolitischen Strategie war, deren Förderer ganz unterschiedliche, aber als Einheit gedachte Mittel der Umsiedlung, der nationalen und kulturellen Homogenisierung, der Bevölkerungsreduktion und -wachstumsbegrenzung vorschlugen, die unterschiedliche Minderheiten und Völker marginalisierten und vertrieben und schließlich einem Teil der Diskriminierten das Lebensrecht nahmen.

Das gleiche galt für eine Reihe sozialer und nationaler Minderheiten in der Sowjetunion unter Stalin. Jedenfalls ist die – später schamhaft abgeschwächte – Bemerkung von Jürgen Habermas, man brauche über das Schicksal der russischen und ukrainischen Kulaken während der stalinistischen Zwangskollektivierung nicht weiter zu reden, nicht weniger skandalös als Noltes Bemerkung, Theresienstadt sei eine Art Altersheim gewesen.

Der Vergleich der beiden totalitären Großsysteme ist nicht zureichend. Es gilt auch, die deutsche Politik der Vertreibung und Zwangsumsiedlung, der Neuordnung und Vernichtung im Zusammenhang der europäischen Geschichte dieses Jahrhunderts zu untersuchen. Dazu gehören mehr oder weniger gewalttätige Modernisierungsstrategien, die Betrachtung einer Vielzahl von unterschiedlichen Menschen als „Menschenkontingente“, mit denen man von Staats wegen beliebig schalten und walten kann, die man umsiedelt oder enteignet, privilegiert oder ausstößt.

Im Mittelpunkt solcher Konzeptionen staatlich gesteuerter Privilegierung und Deklassierung stand immer die Vorstellung, daß sich auf diese Weise soziale und ökonomische Strukturen schneller, gewissermaßen über Nacht revolutionieren, sich alte Streitigkeiten und Probleme mittels einmaliger „Eingriffe“ beseitigen ließen, ein homogenes Staatsvolk besser sei als ein heterogenes: All diese Vorstellungen sind nicht nur dem stalinistischen und nazistischen Denken jener Jahre gemeinsam. Sie finden sich als „Agrarfrage“ formuliert, als „Flüchtlingsfrage“, als „Nationalstaatsgedanke“ und „Überbevölkerungsfrage“, auch im gewöhnlichen, aufgeklärten Fortschrittsdenken des Jahrhunderts.

Die Grundmuster dieses politischen Denkens waren in Europa populär. Sie prägten auch die Politik des Völkerbunds, des Internationalen Arbeitsamts in Genf und schließlich die Friedenskonzeptionen der Anti-Hitler- Koalition: Die Vorstellungen von nationaler Homogenisierung und die entsprechende Mißachtung von Minderheitenrechten spielten schon bei der Legitimierung des sogenannten griechisch- türkischen Bevölkerungsaustausches im Jahr 1923 in Lausanne ebenso eine verhängnisvolle Rolle wie sie 1938 den ergebnislosen Verlauf der Konferenz von Evian bestimmten.

Polen und Frankreich verhandelten zu dieser Zeit über die mögliche Nutzung der Insel Madagaskar als mögliche „Heimstätte“ für die polnischen Juden, und Roosevelt unterbreitete nach dem Pogrom vom 9.November Mussolini den Vorschlag, in Abessinien eine Judenkolonie unter italienischem Protektorat zu errichten, um das (leidige) Minderheitenproblem endlich zu regeln. Und schließlich wurden in der Folge der Beschlüsse von Teheran, Jalta und Potsdam in Europa mindestens 20 Millionen Menschen zwangsweise umgesiedelt oder vertrieben.

Die allgemeinen Menschenrechte, zu denen das Recht auf Heimat und Minderheitenschutz gehören, sind in diesem Jahrhundert vielfach ignoriert und verletzt worden. Nur einmal, und eben in Deutschland, wurde daraus Auschwitz. Die Tat, das Verbrechen sind einmalig. Und dennoch steht Auschwitz auch im Kontext deutscher und europäischer Geschichte. Erst wenn diese Kontexte wirklich formuliert und begriffen sind, erst dann läßt sich auch über Grenzen des Verstehens sinnvoll reden.

Der Beitrag erschien dieser Tage in erweiterter Fassung in: Hanno Loewy (Hg.), „Holocaust: Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte“. Rowohlt Taschenbuchverlag. 288 Seiten, 18,90DM. Der Band enthält u.a. Beiträge von: Lutz Niethammer, Edna Brocke, Hermann Lübbe, Olaf Groehler und Mischa Brumlik.