Clever las jungen Werther

„Wenn ich nur wüßte wohin. Ich ginge wohl.“ Die Höhen und Tiefen des jungen Herrn Werther können heute, ebenso wie die allgemeinmenschlichen Betrachtungen in Goethens Jugendwerk, noch manches Herz näher angehen. Aus den Briefen des jungen Mannes an seinen Freund Wilhelm las eine große Dame des Theaters am Donnerstag in den Kammerspielen. Edith Clever, die mit der Creme der deutschen Regisseure triumphale Skandale erlebte, setzt sich, verpackt in warme dunkle Kleidung und mit einem Schal um den Hals, an ihr schlichtes Arbeitstischchen auf der Bühne. Kein Blick, kein Gruß, gleich geht es hinein in den Text, der nach seinem Erscheinen Ende des 18. Jahrhunderts eine Welle von Selbstmorden auslöste: „Wilhelm, ich weiß manchmal gar nicht, ob ich auf der Welt bin,“ fliegt die Wehmut der vorklassischen Epoche des Sturm und Drang durch das Parkett in der Hartungstraße. Zu hören ist die Geschichte vom Liebenden, den die Gefühle nur so schütteln. Werther liebt Lotten, den Engel, doch sie heiratet pflichtgetreu ihren Bräutigam Albert. Die Freundschaft, die die drei trotz alledem zu knüpfen versuchen, ist nicht von Dauer. Am Ende bleiben ein Toter und zwei gebrochene Herzen übrig. Gut zwei Stunden nahm Edith Clever das Publikum mit in die Goethesche Welt. Wenige Gesten begleiteten beinahe meditativ den Vortrag, spröde Melodiösität klang in der Sprache, und pathetischer Tonfall überhöhte die mitunter ja auch kitschigen Szenarien, die sich der Noch-Nicht-Geheimrat aus dem vollem Herzen geleiert hatte. Goethe konnte eben seinerzeit schon süßer dichten, als die gleichnamigen Bonsches heute schmecken. jk