Färberwaid – ein Kraut für alle Fälle

Ein Thüringer Malermeister hat eine vergessene Pflanze wiederentdeckt/ Kosmetik, Heilmittel, Holschutz und Farbe/ Einstiger Wohlstand in der Region um Erfurt durch Waid-Verarbeitung  ■ Aus Neudietendorf Heide Platen

Das schmale, saftig-grüne Blatt des kräftigen Planzenbüschels fühlt sich rauh an. Das Kraut ist, so seine Liebhaber, von der Wurzel bis zur Spitze eine „alternative Universalpflanze“. Es riecht wie frisches Gras, schmeckt säuerlich, ein bißchen schleimig, pelzig. Im thüringischen Pferdingsleben, einer 400-Seelen-Gemeinde zwischen Gotha und Erfurt, wächst es auch in Hof und Garten des Bauingenieurs und Hobby-Historikers Gerhard Brandt. Einst war es der Reichtum der Region gewesen: Isatis tinctoria – der Färberwaid.

Die fast vergessene Pflanze, ein zweijähriger Kreuzblütler, blüht Ende Mai gelb wie Raps. Gerhard Brandt erarbeitete eine Chronik der Geschichte des Anbaus in der Region. Aus den Blättern wurde noch bis zum Anfang dieses Jahrhunderts ein kräftiger, blauer, indigoartiger Farbstoff gewonnen. Da war die hohe Zeit des Färberwaids allerdings längst vorbei, die von 1230 bis 1680 rund 300 Dörfern das Einkommen sicherte.

Auch die Stadt Erfurt verdankte ihren Wohlstand der Waid- Verarbeitung. Ein strenges staatliches Reglement garantierte, daß alle an der Produktion des Farbstoffes gut verdienten. Bauern und Mühlenbesitzer lieferten in die Stadt an die dafür privilegierten Händler, die Waid-Junker. Waid wurde gut bezahlt und deshalb auch das „Goldene Vlies“ Thüringens genannt. Brandt: „Das sehen Sie auch noch an den großen alten Häusern hier im Dorf.“ Die spätgothische Kirche ist für den kleinen Ort denn auch prächtig groß geraten. Das bis unter die Decke reichende Holzgestühl präsentiert sich in allmählich verblassenden weiß-blauen Ornamenten – gemalt mit Färberwaid.

Im benachbarten Neudietendorf, das einen Waid-Bauern im Wappen trägt, spielen alljährlich im Sommer Folkloregruppen zum traditionellen Waidfest auf. Hier, am Waidplatz, wohnt der Malermeister Wolfgang Feige. Der kleine, agile Mann mit dem weißen Haarkranz und den flinken Augen ist ein echter Pionier. 1980 erhielt er von einem Biologielehrer die ersten Samen geschenkt, experimentierte und probierte über mehrere Generationen in der Familie vererbte Rezepturen aus. Inzwischen hat er über 200 Häuser in der Umgebung statt mit giftigen Holzschutzmitteln mit Waid-Farben gestrichen: „Wände, Holz, innen und außen!“ Sein größtes Projekt war die Restaurierung eines Waidspeichers aus dem 15. Jahrhundert in Erfurt. Die Anerkennung tut ihm sichtlich gut.

Zu DDR-Zeiten erregten seine Aktivitäten staatliches Mißtrauen. Zumal er, sich dem realen Sozialismus energisch verweigernd, ohnehin schon zweimal ins Gefängnis gesteckt worden war. Seither ist er gläubiger evangelischer Christ, der Trost in der Natur findet: „Ich bin einfach mit der Pflanze gewachsen.“ Die DDR-Regierung, ständig auf der Suche nach Ersatzstoffen, unterstützte ihn nicht, wollte aber dennoch von seinen Kenntnissen profitieren. Feige weigerte sich und wurde vorsichtshalber zum „Geheimnisträger“ gemacht. Für ihn und seine Familie bedeutete das Isolation. Trotzdem fand 1987 die erste Internationale Waid-Tagung in Neudietendorf statt. Nach der Wende geriet der Malermeister erst einmal in den Wirbel des anrückenden Kapitals. Windige Firmen und Einzelpersonen standen Schlange, boten ihm Beteiligungen und Partnerschaften an: „Von 120 Angeboten waren 90Prozent unseriös. Daß man da so aufpassen muß, das habe ich nicht gewußt“, sagt Feige. Große Pharma- und Kosmetikkonzerne versuchten, ihm seine zum Patent angemeldeten Herstellungsmethoden abzuluchsen. In ihren eigenen Labors arbeiten sie jetzt mit dem Färberwaid.

Das Land Thüringen läßt mit der versprochenen Unterstützung auf sich warten. Trotzdem könnte der Waid eine Alternative zur Landwirtschaft werden. Feige hofft auf Hilfe, denn er fühlt sich für die zehn Bauern, die rund um Neudietendorf den Waid wieder angepflanzt haben, verantwortlich. Mit zwei Partnern hat er zwei Firmen zur Erforschung und Verarbeitung gegründet und neun Arbeitsplätze geschaffen. An mehreren Universitäten wird die Arbeit des „Waid-Papstes“ wissenschaftlich erforscht. In Bayreuth experimentieren Studenten damit, die Farbausbeute ohne chemische Zusätze durch Bakterien zu verdreifachen. Auch die Denkmalpflege nutzt die „alten“ Naturfarben bei Restaurationsarbeiten. Feige fürchtet dennoch um die Früchte seiner Arbeit: „Wenn das jetzt alles wissenschaftlich abgesichert und mit Gutachten belegt ist, dann müssen wir einfach schneller sein als die anderen.“ Diesen „Tanz auf dem Drahtseil“, zu dem ihn die Konkurrenz aufgefordert hat, möchte er vor dem Ruhestand noch durchstehen.

Bei seinen Experimenten fand er bisher 16 Anwendungsmöglichkeiten der „Universalpflanze“. Neben der blauen Farbe entwickelte er eine ganze Palette von Farbtönen von Orangerot über Grün bis Braun und Grau und entdeckte die härtenden, konservierenden Eigenschaften an einem Holzstock im Farbeimer. Beim Umgang mit dem Waid kam er sogar heilenden Kräften auf die Spur: „Meine Hände wurden auf einmal glatt.“ Seither sind Gesichtscreme und Schaumbad im Programm. Auch einen Tee stellt er vor, und, versuchsweise, einen klaren Wurzelschnaps. Vieles ist noch offen bei der Wunderpflanze – vor allem die medizinische Wirkung, die ihr als Blutstillmittel, gegen Allergien und bei Tumoren zugeschrieben wird. Hinweise auf ein Lebenselexier aus Indigo, dem ältesten organischen Farbstoff, geben alte chinesische Schriften. Auch Hippokrates, Plinius und Hildegard von Bingen empfahlen ihn gegen die verschiedensten Gebrechen.

2.000 Jahre Waid-Geschichte sind in weltweiter Recherche aufgearbeitet. In Japan und der Türkei wachsen Pflanzen mit ähnlicher Wirkung. Nach Thüringen kam der Waid vermutlich aus den Steppen des Kaukasus. Karl der Große forderte den Anbau in einer Verordnung über die Krongüter und Reichshöfe. Die Blütezeit in Thüringen begann aber erst im 14. Jahrhundert.

Auf einer „Waid-Karte“ sind – dicht an dicht um Erfurt herum – erhaltene Mühlsteine, deren Bruchstücke und alte Lager- und Produktionsstätten dokumentiert. Die letzte originale Waidmühle Mitteleuropas steht in Pferdingsleben. Ausgelaugtes Erdreich, die Wirren des 30jährigen Krieges und die Einfuhr des Indigo, der intensiver färbte und leichter zu verarbeiten war, schmälerten das Geschäft. Reichsverordnungen bis hin zur Todesstrafe gegen die Indigo-Einfuhr hielten den Untergang nicht auf. Die letzte Waid-Ernte wurde 1912 in Pferdingsleben eingefahren. Auf dem kleinen Festplatz demonstrieren junge Leute die alten Produktionsmethoden, die Wolfgang Feige ein wenig modernisiert hat. Geerntet wird bis zu dreimal im Jahr. Die Blätter der Pflanze werden dicht über der Pfahlwurzel geköpft und treiben dann neu aus. Dafür braucht es nährstoffreichen Boden. Dann wird sorgfältig ausgelesen, weil andere Kräuter die Wirkung beeinträchtigen. Außerdem werden die kleinen, grünen Samenschoten geerntet und zu Öl gepreßt. Das Kraut wird gewaschen und zermahlen. Ein Pferd zieht einen senkrecht stehenden, gerippten Mühlstein im Kreis. Der Brei wird nach 24 Stunden Gärzeit zu Bällchen geformt, die auf einer Darre trocknen und aussehen wie kleine Pferdeäpfel. Diese werden zu feinem Staub zerkleinert und mit Wasser angesetzt. Die Stoffe, früher vor allem Leinen und Wolle für Alltags- und Arbeitskleidung, färben sich durch Oxydation erst grünlich, dann immer tiefer blau. Stoffdruckereien stellten außerdem weißblau gemusterte Textilien her. Bettwäsche und Tischtücher liegen noch heute als Erbstücke gut behütet in manchen Schränken.