Hundert Tschernobyls am Meeresgrund

US-Fernsehgesellschaft ABC warnt vor Plutonium-Gefahr aus 1989 vor Norwegens Küste gesunkenem sowjetischem U-Boot/ Norwegische Behörden spielen die Gefahr herunter  ■ Von Reinhard Wolff

Oslo (taz) – Das 1989 vor der norwegischen Küste gesunkene sowjetische Atom-U-Boot „Komsomolez“ stellt eine hundertmal größere radioaktive Gefahr dar als die Tschernobyl-Katastrophe. Diese Einschätzung in einem Bericht der US-Fernsehgesellschaft ABC vom Montag abend hat in Skandinavien große Unruhe ausgelöst. ABC, das sich in seinem Bericht auf amerikanische und russische Wissenschaftler, unter anderem einen U-Boot- Konstrukteur, stützt, schätzt vor allem die Gefahr groß ein, die von den Atomtorpedos ausgeht, mit denen das gesunkene U-Boot bestückt ist und die 20 Kilo Plutonium enthalten. Videoaufnahmen zeigten, daß die Außentür zu einem der beiden Schächte, in denen die Torpedos liegen, offen sei. Die Innentür sei in wenigen Monaten durchgerostet, spätestens 1995 werde Plutonium austreten, sagte der U-Boot-Konstrukteur Nikolai Nosov, der drei Expeditionen zu dem Wrack leitete. Russische Experten haben außerdem ausgetretenes Caesium 137 gemessen. Nach ihrer Ansicht ist im nächsten Jahr die letzte Chance, eine Katastrophe im Nordmeer zu verhindern. Die „Komsomolez“ war im April 1989 zwischen der nordnorwegischen Küste und der Bäreninsel gesunken. Nach damaligen sowjetischen Angaben kostete das Unglück 42 Tote. Das 120 Meter lange Atom-U-Boot verfügt über zwei Atomreaktoren. Es liegt in etwa 1.800 Metern Tiefe auf dem Meeresgrund. Das fragliche Meeresgebiet, 200 Kilometer vor der norwegischen Küste, ist einer der wichtigsten Fischgründe der Erde, in dem das Freiwerden von Radioaktivität und eine mögliche Verstrahlung von Fischen eine unmittelbare Bedrohung darstellt, sollten das Atom-U-Boot oder zumindest dessen Atomtorpedos nicht gehoben werden. Eine Gesamtbergung des Bootes würde laut ABC allerdings zwei Milliarden Dollar kosten.

Die norwegischen Behörden versuchten gestern, die Gefahr herunterzuspielen. Knut Gussgard, Chef der staatlichen Atomkontrollbehörde, schätzte gegenüber der taz den ABC-Bericht als „alte Geschichte“ ein. Es sei seit einiger Zeit bekannt, daß geringe Mengen von Caesium 137 ausgetreten seien. Weder die Reaktoren noch die Torpedos stellten eine unmittelbare Gefahr dar, solange man das Boot auf dem Meeresboden ruhen lasse. Im Gefolge der überirdischen Atombombentests in den sechziger Jahren seien „Tonnen von Plutonium in die Atmosphäre und in die Meere gelangt“: „Im Vergleich dazu sind 20 Kilogramm aus den Torpedos eine relativ geringe Menge, die zu klein ist, um eine Gefahr für den Fischbestand darzustellen.“

Die norwegischen Behörden versuchen seit dem Sinken des U-Boots, die davon ausgehende Gefahr herunterzuspielen. Offensichtlich fürchtet man in Oslo, daß die Fischexporte des Landes ansonsten ins Gerede kommen könnten. Fischfänge werden nur in Stichproben und nicht systematisch auf radioaktive Belastung untersucht — dem im Nordmeer überall versenkten sowjetischen Atommüll zum Trotz. Das Fischereiministerium ist – trotz fehlender exakter wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Strömungsverhältnisse in der Tiefsee – der Auffassung, daß es hundert Jahre dauern würde, bis radioaktive Stoffe aus einer Tiefe von 1.600 Metern in Schichten gelangen würden, die für die Nahrungskette des Menschen von Bedeutung seien. Bis dahin seien kurzlebige radioaktive Stoffe wie Strontium und Caesium relativ ungefährlich geworden. Das Plutonium mit einer Halbwertzeit von 24.000 Jahren werde sich am Meeresboden ablagern. Das Uran sei stark wasserlöslich und werde sich im Wasser auf eine unmeßbare Größe verdünnen.

Im Gegensatz zu der abwiegelnden Haltung der norwegischen Behörden warnt Greenpeace seit Jahren vor den Gefahren, die von der „Komsomolez“ ausgehen. Greenpeace-Norwegen hält es in einer ersten Stellungnahme für „verwunderlich“, daß Norwegen die Gefahren plötzlich niedriger einschätze als russische Experten. Oslo habe hierfür offensichtlich „psychologische und wirtschaftliche“ Gründe. Trotz der Gefahren, die mit einer Bergung verbunden seien, sei es besser, die „Komsomolez“ zu heben, da das Verbleiben des Schiffes auf dem Meeresgrund mit zu vielen Unwägbarkeiten verbunden sei.