365 Ärsche im Fluxus

■ Yoko Onos Filme in Frankfurt

Eine Horrorvision: Ich schlendere durch einen Londoner Park. Es ist kalt und feucht. Ich versinke in melancholische Betrachtungen. Es bleibt wenig Raum für die Außenwelt. Doch jählings werde ich aus den Träumen gerissen und befinde mich im Mittelpunkt eines Überfalls. Ein Kamerateam bedrängt mich und läßt nicht mehr von mir ab.

Die österreichische Hippie- Frau mit den wunderbar aufgemalten Wimpern, der dies passiert, erträgt es zunächst mit Fassung: „Ich bin doch kein Filmstar. Soviel Film zu verschwenden, ist wirklich schade.“ Noch weiß sie nicht, daß sie Protagonistin in dem 77-minütigen Film „Rape“ von Yoko Ono ist. Das Filmteam nötigt ihr an den verschiedensten Orten die Hauptrolle auf, im Park, im Haus der Schwester, sogar bis an den Heimatort wird sie verfolgt. Unerbittlich hält die Handkamera alle Reaktionen fest, von freundlicher Abweisung über Koketterie bis zu Ohnmacht und Wut. Lediglich am Filmrollenende wird die Hetzjagd unterbrochen, um mit der nächsten Klappe erneut zu beginnen.

Der Film deckt die Strukturen einer Vergewaltigung auf: Überfall, physische Bedrängung, Verletzung der physischen Privatsphäre, Überwältigung. Die indiskrete, zynische Sicht auf das wehrlose Opfer gleicht dem pornographischen Blick, der alles sehen will. Wenn die Frau direkt in die Kamera spricht, wird deren Anwesenheit überdeutlich und damit der (Dokumentar-)Film als eingreifendes Medium reflektiert.

„Rape“ läuft innerhalb einer Retrospektive von Filmen Yoko Onos im Frankfurter Filmmuseum. Als Wanderausstellung von der „American Federation for the Arts“ organisiert, wurden fünfzehn Filme aus der Zeit von 1966 bis 1982 zusammengestellt. Dabei sind besonders die frühen Werke der Konzeptkunst und dem Fluxus verpflichtet. In „Film No.4“ (1966) zeigt Yoko Ono die Ärsche von „365 Heiligen unserer Zeit“, nämlich von vielen anderen Londoner Künstlern und Galeristen, und will damit beweisen, daß jeder Regisseur sein kann, ganz im Sinne Andy Warhols.

Fluxus-Filme versuchen, die filmische Handlung auf ein Minimum zu reduzieren, und verweigern sich einer direkten Sinnstruktur – oft passiert nur das, was der Titel verspricht. Warhols „Haircut“, „Empire“ und „Sleep“, die alle Aktionen in Originalzeit ablaufen lassen, gelten da als Vorläufer. In Yoko Onos „Two Virgins“ (1968) sind leichte Kopfbewegungen von John Lennon und Yoko Ono übereinanderkopiert. „Es ist der Effekt, der entsteht, wenn man eine Skulptur lange betrachtet“, kommentierte Lennon den Film. Der Soundtrack ist eine Mischung aus Vogelgezwitscher, schrillen Pfeiflauten, E-Gitarrenjaulen und Schreien. Gegen Ende begleitet er beiläufig die Handlung mit vibrierendem Stimm-Tremolo. Über Minuten geschieht nichts anderes, bis – aus extremer Unterperspektive – John und Yoko küssend zu sehen sind. Eine Hand greift nach den beiden Unbefleckten, aber kann sie nicht erreichen.

Ähnlich pathetisch ist „Film No.5 (Smile)“ (1968), der die dreiminütige Highspeedkamera-Aufnahme des Konterfeis Lennons in einer Superzeitlupe auf 51 Minuten dehnt. Eine angehimmelte Pop-Ikone hängt an der Leinwand und lächelt uns gütig zu. Oder „Apotheosis“ von 1970, wo Yoko und John, in schwarze Gewänder gehüllt, auf einem Marktplatz stehen. Plötzlich hebt die Kamera ab, schwebt über schneeverwehte Landschaft, durchbricht Nebel und Wolken, um in das gleißende Antlitz der Sonne zu blicken. Drei Filme zum Zen-Meditieren, die nicht zuletzt das hingebungsvolle und ausschließliche Liebesverhältnis der beiden dokumentieren dürften. Yoko Ono mischt in ihren Filmen strukturelle Elemente mit Happening-Ideen. Äußerst verdichtete symbolische Handlungen werden in einem schnörkellosen Stil abgelichtet. In „Fly“ liegt eine nackte Frau – „Virginia Lust“ im Abspann genannt – unbeweglich auf dem Bett, während Fliegen sich über sie hermachen. Fast scheint es, als sei sie tot. Die kontrastarme, statische Schwarzweiß-Fotografie läßt in den Nahaufnahmen die Körperteile wie abstrakte Formen wirken. Eine krächzende Stimme interpretiert abwechselnd das Fliegengebrumm und die mal entspannte, mal hektische Reaktion der Frau auf die kitzelige Annäherung.

Während dieser Film mit einem 1:1-Zeitverhältnis arbeitet, experimentiert Yoko Ono auch mit den zeitlichen Manipulationsmöglichkeiten des Mediums. In „Erection“ (1971) verfolgt sie mit Zeitraffer- Aufnahmen den Bau eines Hochhauses, das sich wie von Geisterhand selbst errichtet. Hierin drückt sie eine Allegorie der Fluxus-Idee aus, daß nämlich Dramaturgie, Erzählung und Illusionscharakter des Films aufgegeben werden, um einem möglichst uninszenierten, auf sich selbst verweisenden Film (als Film) Platz zu machen. Helmut Merschmann