Der kurze Sommer der Revolution

■ Wiederentdeckung eines politischen Dokuments

Nicht nur über die Oktoberrevolution, auch über die kurze Phase bürgerlicher Hoffnungen zwischen Februar und Oktober 1917 sind unzählige Bücher geschrieben worden. Immer wieder wurde dabei die Geschichte der konstitutionellen Versammlung, wurden ihre Repräsentanten zum Gegenstand historischer Untersuchungen, um Aufschluß über den schnellen und tragischen Zusammenbruch der demokratischen Bewegung in Rußland zu gewinnen.

Ein wiederentdecktes Dokument, das jetzt zum ersten Mal auf deutsch vorliegt, eröffnet neue Einblicke in die bürgerliche Tragödie der kurzen Kerenski-Regierung. Der 200-Seiten-Band „Petrograd 1917“ trägt den Enzensberger entlehnten Untertitel „Der kurze Sommer der Revolution“, und nach der Lektüre versteht man tatsächlich besser, wie auf diesen kurzen Sommer jener lange eisgraue Winter der sowjetischen Entwicklung folgen konnte.

Auch die erste Ausgabe dieses Buches erschien übrigens weiland in Berlin. Als Mitglied der in den zwanziger Jahren in Berlin ansässigen russischen Emigranten-Kolonie gab J.W. Gessen, ein engagierter Kämpfer für die demokratische „Kadetten-Partei“, in den zwanziger Jahren hier in russischer Sprache das „Archiv russkoj revoljucii“ (Archiv der russischen Revolution) heraus: Erinnerungen an die Revolution und den anschließenden Bürgerkrieg. Einer der ersten Bände dieses Periodikums waren 1922 die Erinnerungen von Wladimir Dimitrijewitsch Nabokow.

Der Petersburger Professor für Kriminalrecht war Angehöriger des russischen Hochadels und trat zu Anfang des Jahrhunderts immer offensiver als Kritiker des Zarenregimes auf. Er schloß sich der Konstitutionell-Demokratischen Partei der „Kadetten“ an und war nach der verpatzten Revolution von 1905 Mitglied des ersten russischen Parlaments, der Duma. Als Jurist hatte er in der demokratischen Bewegung eine Schüsselstellung inne, da es um die gesetzmäßige Verankerung einer Trennung von Legislative und Exekutive ging.

Im Ersten Weltkrieg gehörte Nabokow zunächst dem russischen Generalstab an, nach der erzwungenen Abdankung des Zaren wurde er Chef der Kanzlei der Provisorischen Regierung. Mit dem Ministerpräsidenten Aleksandr Fjodorowitsch Kerenski jedoch, seinem Anwaltskollegen, kam es bald zu Zwistigkeiten, die, wie man aus Nabokows politischen Memoiren leicht rekonstruieren kann, in den charakterlichen Unterschieden der beiden Männer begründet waren: „Hier enthüllte sich mir zum ersten Mal einer der Hauptcharakterzüge dieses verhängnisvollen Menschen, und zwar sein absoluter Mangel an Menschenkenntnis und seine Unfähigkeit, Menschen richtig einzuschätzen.“

Beim Machtantritt der Bolschwiki mußte Nabokow auf die Krim fliehen, wo er, offensichtlich noch im Zustand der Erregung, seinen Abriß der jüngsten Ereignisse niederschrieb. Genau das aber macht das Buch so spannend: es präsentiert Innenansichten des konstitutionellen Kabinetts, wie sie die Literatur über die bürgerlich-liberale Revolution in Rußland bisher selten zu bieten hatte. Nabokow ist ein brillanter Denker, zwar kein großer Stilist, aber doch ein gewandter Publizist, dessen persönliche Gefühle seinen Aufzeichnungen nicht zuletzt ihren Rang verleihen: „Erniedrigung und Schande eines beklemmenden Revolutionsjahres“ sind sein Thema.

Der Übersetzer Norbert Randow hat dieses Buch vor Jahren entdeckt und vergeblich in der DDR zu veröffentlichen versucht. Dank des Nachworts und eines sehr brauchbaren Glossars von Günter Rosenfeld kann man es sich auch als Laie jetzt leicht erschließen. Nicht zuletzt aber ist es für jeden „Nabokovian“ wertvoll: der Schriftsteller Vladimir Nabokov ist der Sohn des russischen Politikers.

Wladimir Nabokow:„Petrograd 1917. Der kurze Sommer der Revolution“. Aus dem Russischen von Norbert Randow, Vorwort von Vladimir Nabokov, Nachwort und Glossar von Günter Rosenfeld, Rowohlt Berlin, 1992, 224 Seiten, 34,-DM