Höhepunkte für Millionen

Im Kabelkanal auf dem Weg zum Cyber-Sex  ■ Aus New York Thomas Schuler

Manhattan ist das Mekka der Portiers und Doormen, und alle haben sie das kleine TV-Gerät unter der Theke versteckt. Uneinsehbar für die Spätheimkehrer. Was sie da anschauen? Baseball, Football, Wrestling, MTV, Werbung für den wischfesten Lippenstift und natürlich Kanal 35, das CNN der Voyeure, Erotomanen und Einarmigen. Ein Lapsus wie Frühschläfer Barry Manilow wird ihnen bestimmt nicht passieren: Der Schmusesänger hatte Robin Byrd auf einer Party kennengelernt und war so begeistert, daß er ihr einen Heiratsantrag machte und seiner Mutter von seiner Liebe erzählte. Als er später erfur, wie und wofür Robin Byrd so bekannt ist in Manhattan, soll er sichtlich irritiert die Heirat vergessen haben: Wer von „Byrd-watching“ spricht, meint in New York nicht Kormorane und Seeadler, sondern die Moderatorin einer spätabendlichen Sex-Talkshow, in der Transvestiten, Stripper und Pornostars tanzen. Anschließend wird die Runde von Robin Byrd und Zuschauern interviewt: „Lily, wie viele Filme hast Du gemacht? – Oh, mehr als 300. Wow, that's amazing!“

Wie Manilow wäre es Zeitungsberichten zufolge beinahe auch Bill Clinton ergangen, als er während des Wahlkampfes im Sheraton Hotel auf Robin Byrd stieß. Sie sagte ihm, sie habe eine TV-Show, ob er wohl kommen wolle? Clintons Berater waren ratlos, hatten noch nie etwas von Byrd gehört. Das ganze erübrigte sich, der Kandidat war angeblich bereits ausgebucht.

Nachdem die Künstlerin Sandra Bernhard bei Byrd alles abgelegt hatte, sah sie in ihrer Gastgeberin die „neue Janis Joplin, eine Hippie-Königin mit großen Ohrringen“. Die Moderatorin, selbst aus dem 42nd-Street-Milieu, legt eine Stunde vor Beginn der Show die Jeans ab, „um keine Druckstellen am Bauch zu haben“. Ab 22 Uhr trägt sie dann nur noch ein paar Fäden als Bikini, dazu weiße Sportsocken in ihren Cowboy-Boots. Ihre Stars rekrutiert sie aus dem Strip-Paradies „Show World“ an der 42.Straße. Das Procedere ist immer gleich: Vorstellung der Tänzer, das Bild gefriert zum Standbild, währenddessen eilt die Moderatorin selbst hinter die Kamera udn weist Stripperinnen von der Westküste ein, was sie im Staat New York zeigen dürfen: „Ja, ja. Zeig dich. Schön. Halt! Hände weg von der Pussy! Sonst drehen sie uns den Saft ab.“

Ihren Zuschauerkreis schätzt sie auf rund eine halbe Million: Ein Stammpublikum, das sie sich im Laufe von 16 Jahren erstrippt hat. Die Spielregeln haben sich in dieser Zeit oft verändert: Erektion darf heutzutage gezeigt werden, Penetration und Ejakulation nicht. Vieles, was im Erwachsenenprogramm des offenen Kabelkanals läuft, ist amateurhaft gedreht. Der Kanal ist eine gesetzlich vorgeschriebene Einrichtung der Rundfunkaufsichtsbehörde FCC, um Vielfalt im TV-Dschungel zu ermöglichen und die Bürger am Programm zu beteiligen.

Mehr im Ungefähren, im Phantastischen spielt Voyeur Vision, die Telefonsexsendung des Ehepaares Muscarella; die beste Garantie für den Absatz der Kleenexproduktion. Zeit ist Geld bei „Voyeur Vision“, viel Zeit bringt viel Geld: jede Minute fünf Dollar. Klar also, daß die Phantasie von TV-Callgirl Lynn Muscarella stets ins Unendliche zielt: „Du hast diese wahnsinnige Erektion, die nie aufhört“, flüstert sie und lächelt mit Schlafzimmerblick in die Kamera. Bill Muscarella führt Regie, seine Frau Lynn besorgt die Höhepunkte. Die Show ist laut US-Playboy das „heißeste Phänomen auf Kabel seit 1990“. Viermal pro Woche läuft sie im Nachtprogramm von Kanal 35. Bill Muscarella hat an der Wall Street für Bear, Stearns und Co. als Börsenbroker gearbeitet, in Zeiten von Rezession und Aids sei Telefonsex ein besseres Geschäft, versichert er. Es ist kurz vor 23 Uhr in einem Altbau an der 23.Straße, Ecke Park Avenue: Bill kaut mit cooler Mine Kaugummi, den Reißverschluß seiner Trainingsjacke hat er bis unter das Kinn hochgezogen, Einblicke gewährt nur seine Frau. Ein Interview? Nicht nötig, sagt Bill, seine Frau denke ja dasselbe wie er. Na gut, höchstens fünf Minuten.

Lynn sitzt im weißen Jogginganzug in der Studioregie und überlegt, wie vielen Leuten sie schon einen Orgasmus verschafft hat. „Das sind sicher Millionen.“ Sie bekomme Hunderte von Briefen, darunter Anfragen von Zuschauern, die gerne bei ihr auftreten möchten. „Anrufer lehren mich viel, die haben interessante Dinge zu erzählen“, sagt Lynn. „Anything goes“, lautet Bills Devise – alles ist möglich. Lynn schränkt ein: kein Inzest, kein Sex mit Tieren. Sie bezeichnet sich selbst als Schauspielerin. Pornos? Nein, richtige Filme, sagt sie. Gerade habe sie neben Al Pacino in „Scent of a woman“ eine Nebenrolle gespielt.

23 Uhr. Lynn erscheint auf der Mattscheibe: mit Hosenträgern überm Busen, – Schnitt – als Domina mit Peitsche in schwarzem Leder – Schnitt – als Krankenschwester mit Häubchen und weißen Strapsen. „Ich bin hier in meinem Schlafzimmer“, sagt sie gleich zu Beginn in die Kamera. Die Ausstattung ist denkbar einfach: Ein großes Bett mit vergoldetem Metallgestell und rotem Bezug steht stets im Mittelpunkt. Auf einer Querstange ist ein Mikrophon befestigt, in einer Ecke steht ein beiges Telefon, die US-Standardausführung: Lynn hebt ab. „Erzähl mir Deine Phantasien“, sagt sie, „irgendetwas, das Du noch nie getan hast.“

Am unteren Bildschirmrand ist die 970-4600 eingeblendet. Zehn Anrufe kann die Anlage gleichzeitig annehmen, neun Voyeure tummeln sich in der Warteschleife oder lauschen einer Bandaufzeichnung. „Hallo, Du bist auf Sendung. Wer bist Du?“ Ein schüchternes Brummen mischt sich ins Knacken der Telefonleitung. „Du klingst sehr attraktiv“, folgert Lynn aus dem fernen Grunzen. „Hast Du jede Nacht einen Orgasmus?“ Sekunden später stöhnt sie, schnaubt und preßt die Beine zusammen. Unvermittelt wandelt sich ihr Tonfall: „Bitte, bleiben Sie noch einen Moment dran“, unterbricht sie, nimmt den Hörer vom Ohr, drückt ein Knöpfchen und hat einen anderen Anrufer in der Leitung: „Hey, Eric!“ Ein Stammkunde...

Auf einem der fünf Monitore im Regieraum sehen wir „Lydia privat“, die erheblich preiswerter arbeitet: Für zwei Dollar pro Minute gibt die beleibte Dame per Telefon auf spanisch psychologische Ratschläge. Auf drei Bildschirmen stöhnt Lynn lauthals, darüber bittet ein schwarzer Pfarrer im Meßkleid in seiner Kirche auf Long Island: „Herr, sag mir, was ich für Dich tun soll.“ Wie ein Schlagersänger agiert der Geistliche inmitten der Gläubigen, singt und tanzt: „Friede!“ schreit er immerzu. Im Studio nebenan moderiert Ken Sander eine politische Talkshow.

„Drei Männer, das ist meine Phantasie heute. Du bist einer der drei. Bleib dran und überleg Dir was!“ Sie drückt wieder aufs Knöpfchen. Neuer Anrufer. „Oh, eine Frau.“ Lynn ist erstaunt, aber die Anruferin hat bereits wieder aufgelegt.

Ein Techniker in der MAZ sagt, nein, die Show mache ihn nicht an, nicht hier in dieser Umgebung... 200 Dollar kriegt er von Bill hinterher in die Hand gedrückt; der eifrige Regisseur eilt zurück vors Bett, hebt und senkt den Arm wie eine Seemöwe die Flügel. Lynn hebt und senkt rhythmisch den Po. Spätestens alle acht Minuten soll sie einen Höhepunkt liefern, länger darf das Ganze nicht dauern, schließlich warten ja 30 Sekunden gut bezahlte Werbung. Stay tuned! Domina Jacquelin bietet ihren Auspeitsch-Service an, asiatische Begleiterinnen zeigen sich im Bikini, für Pornoläden und Stripläden am Times Square wird geworben. Eine Hausfrau sitzt nackt auf dem Sofa, preßt den Hörer zwischen die Beine, „2,35 Dollar per minute only“. Wer 970-PEEE wählt, hat jene Dame in der Leitung. Gestartet war Voyeur Vision mit einem Deutschen, populär sei es aber erst ab 1990 mit seiner Ehefrau geworden, sagt Bill. Manchmal hat seine Frau Gäste: eine Sado-Maso-Domina etwa.

Sexheft-Verleger Al Goldstein moderiert die Mitternachtsporno- Show „Midnight Blue“: sonnengebräunt, übergewichtig, mit Goldkettchen und grauem Vollbart tritt er vor die Kamera. Bei weiblichen Branchenstars beklagt er sich über den Bauchansatz der männlichen Darsteller. Irgendwie wird man dabei das Gefühl nicht los, daß er wohl nur seine eigenen Chancen erforschen möchte. Den Firmenchef der Fluggesellschaft TWA läßt er mittels Retuschierung als Hauptakteur eines Pornos auftreten, die Sparte „Restaurantkritik“ erschöpft sich oft genug in einem „Fuck you“ oder im Vergleich mit McDonald's. Ähnlich verhält es sich mit mancher Anmoderation: ein Paßfoto von John O. Grettenberger, Cadillac Vice President, ist zu sehen. Allmählich wird das Paßfoto durch einen Gummipenis ersetzt, zuerst groß, danm immer kleiner: „Du bist so ein kleiner Wicht“, tönt Goldstein aus dem Off. Darüber blendet er Titelbilder seiner Schmuddelzeitung Screw Magazine ein und Werbespots für Sexshops. Anschließend plaudert Pornostar Jeanna Fine über Dreharbeiten mit einem alten Herrn. So und ähnlich geht es Nacht für Nacht von 22 bis 5 Uhr morgens.

Aufsehen erregte 1990 der Kabelsender „Home Box Office“ (HBO) mit Real Sex: Das von Frauen produzierte Magazin lehrte Frauen beispielsweise das Strippen und Masturbieren. Aufgereiht wie beim Aerobictraining folgten Frauen jeden Alters den Anleitungen der Kursleiterin. Prostituierte traten als Lehrkraft auf und erläuterten etliche Stellungen, „um Sex den schmutzigen Beigeschmack zu nehmen“ – so die Erklärung der Produzentinnen.Von Real Sex zur Reality, genauer „Virtual Reality“. Ein Stichwort, das laut Branchenkennern die Zukunft des Erotikfernsehens prägen wird. Was die NASA bereits einsetzt, um Astronauten für eine Marslandung zu trainieren, soll sauberen TV-Sex bescheren. Jaron Lanier, der für MCA Universal an der Computertechnik arbeitet, sagte einem Unterhaltungsmagazin, Virtual Reality werde Sex neu definieren als kreativen, dynamischen Weg, die Phantasien auszuleben. Kabelfernsehen, so heißt es, soll das passende Medium für Cyber-Sex sein. „Je ungewöhnlicher deine Phantasie ist, desto mehr hast du von Virtual Reality“, verspricht ein Fachblatt. Wer sich etwa insgeheim immer nach Sex mit einem Tintenfisch sehne, dem könne endlich geholfen werden.