Im Schatten vom Alten

■ „Hoffmanns Erzählungen“ an der Komischen Oper

Vor der Generalprobe gaben die Gazetten bereits die ersten Vorschußlorbeeren in Druck. Diese neue „Hoffmann“-Inszenierung von Harry Kupfer, so sagte am Vorabend schon ein Kulturmensch im Fernsehen, sei ganz toll anders und viel zeitgemäßer als die alte von Walter Felsenstein. Nach der Generalprobe hat sich das Kupfer-Team dann gemeinsam den Film von Felsensteins „Hoffmann“ angesehen. Und als der große Abend kam, da wisperte und flüsterte es aus allen Ecken des Theaters, da perlte aus jedem Pausenplaudergrüppchen und jedem Premierensektglas nur ein einziger Name: „Felsenstein, Felsenstein“.

Die Trauben also hingen ziemlich hoch. Nur war weit und breit kein Fuchs in Sicht. Walter Felsenstein ist nämlich seit nunmehr achtzehn Jahren tot (wobei heute noch beinahe jeder Opernmacher, der etwas auf sich hält, behauptet, er sei irgendwie ein Felsenstein-Schüler). Und Felsensteins Inszenierung von Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ (die die Tradition des „realistischen Musiktheaters“ und den Ruf der Komischen Oper wenn auch nicht gerade begründet, so doch immerhin in der ganzen Welt verbreitet hat), sie ist nächste Woche auf den Tag genau 35 Jahre alt. Zwar seit einer Ewigkeit nicht mehr im Repertoire, aber nach wie vor eine starke Legende. Denn immer noch schwebt schützend über dem schnuckeligen Alt-Neu-Bau in der Behrenstraße, wo einst in einem früheren Leben Fritzi Massary und Richard Tauber sangen, der mächtige Schatten des Alten.

Es wäre zu schön gewesen, wenn er diesmal auch leibhaftig aufgetreten wäre: als graue Eminenz – beispielsweise als ekliger Stadtrat Lindorf, der von sich selbst gleich zu Anfang singt: „In aller Bescheidenheit, ich bin alt, aber dabei doch noch ganz lebenslustig!“ Oder als einer der anderen geheimen Verführer in diesem Teufelswerk: als Wunderdoktor Mirakel, als Brillenhändler Coppelius oder als Seelenverkäufer Dapertutto. Jacques Offenbach seinerseits hätte sich diesen Gag ganz gewiß nicht entgehen lassen. Aber Harry Kupfer ist ein ernsthafter Mensch, der für Scherz, Satire oder gar Ironie nicht viel übrig und, selbst wo er Offenbach inszeniert, immerzu die tiefere Bedeutung im Kopfe hat. Wobei er sich und sein Publikum um das Vergnügen bringt, im Tiefsinn den Unsinn zu entdecken und umgekehrt.

Im mittleren oder auch dem letzten tieftragischen Akt dieser Oper (je nachdem, welche Fassung gespielt wird) – im „Antonia“-Akt also: da tritt unverhofft ein Buffo- Diener an die Rampe und gibt ein komisches Operettencouplet zum besten. Seine Witze reißt er auf eigene Kosten. Erstens ist er aus Altersschwäche schwerhörig und versteht stets das Gegenteil von dem, was man zu ihm sagt; zweitens piepst er zittrig, tanzt wacklig – und dünkt sich doch ein junger Adonis, ein noch unentdecktes Talent, dem nichts fehlt als nur die richtige Technik.

Dieser uralte Diener Franz, mehr tot als lebendig, ist ein Fremdkörper in Kupfers Inszenierung (die den Antonia-Akt traditionell an den Schluß stellt). Günther Kurth nämlich mimt diesen Diener so schmerzhaft übertrieben klamottig, daß die unmittelbar angrenzenden Szenen geschärft hervortreten und eine eigentümliche Aufrichtigkeit entfalten, die dem Abend sonst abgeht. Denn genau so wie an dieser Stelle sollte es eigentlich immer gelingen: daß die bittere Kantilene den feschen Rhythmus wieder einfängt. Daß das Herzblut des Cellos verdünnt wird vom Rest des Orchesters. Oder wie hier: daß das groteske Geschwätz des Alten den richtigen Rahmen abgibt für das folgende süße Sterben der schönen jungen Antonia, die zugrundegehen muß an der wahren Kunst oder vielmehr, am Klang der eigenen Stimme. Dagmar Schellenberger ist die Antonia. Sie singt auch die Olympia und Giulietta nicht übel – aber sie ist Antonia. Sie füllt die Rolle aus mit jeder Geste, jedem Blick, jedem Ton – so daß die Leute den Atem anhalten müssen, solange sie noch lebt und singt, und, als sie stirbt, ein Stückchen mitsterben. Sie macht sogar, während sie singt, das ganze bedeutsame Drumherum vergessen, den unaufhörlichen Erklärungsdrang der Regie ebenso wie die von der Bühnentechnik entfesselte nervöse Bilderflut. Schellenberger lohnt den Abend. Auch das übrige Ensemble sowie Orchester und Chor tun ihr Bestes. Und Harry Kupfers außerordentlich aufwendig aktualisierte Neu-Inszenierung hat bestimmt nicht wenig Arbeit gemacht.

Kupfer verbraucht, um sich das Ungeheuerliche der Oper geheuer zu machen, jede Menge Videos, Dias, Hydraulik, Schnürboden und Projektionen aller Art. Was dabei herauskommt, ist mit zwei Worten: adrett und überflüssig. Es wirkt nicht die Spur erotisch, wenn zum Beispiel ein roter BH in die Luft fliegt, und kein bißchen aufklärerisch, bloß weil einmal ein Ölfaß auf der Lagune schwimmt. „Hoffmanns Erzählungen“ haben keinerlei platten Realismus dieser Sorte nötig. Die Oper trifft auch so, wenn sie einigermaßen realistisch musiziert wird, jeden von uns jederzeit: denn ihre Musik schlägt, wie Ernst Bloch es einmal beschrieben hat, „den Mantel hoch, und wir stecken drunter“. Natürlich sind solche Obszönitäten weder angenehm noch amüsant. Wie uns Felsenstein gelehrt hat.

Elisabeth Eleonore Bauer

Jacques Offenbach: „Hoffmanns Erzählungen“. Musikalische Leitung: Jörg-Peter Weigle. Inszenierung: Harry Kupfer. Bühnenbild: Hans Schavernoch. Kostüme: Reinhard Heinrich. Mit Dagmar Schellenberger, Neil Wilson, Roger Smeets, Siegfried Vogel, Günther Kurth und anderen.

Nächste Aufführung am 22.1.