Lwow: Eine Stadt, die viel zu bieten hat-betr.: "Lwow: Ein ganz schön heißes Pflaster", taz vom 16.1.93

betr.: „Lwow: Ein ganz schön heißes Pflaster“, taz vom 16.1.93

Dieser Artikel hat mich betroffen und verbittert gemacht, denn zur Jahreswende 92/93 habe ich Freunde in Lwow besucht und dabei diese Stadt kennengelernt. Betroffen deshalb, daß ein satter arroganter Westtourist sich darüber ausläßt, daß es in einem Hotel nicht mehr zu essen gibt. Warum sollte es in einem Hotel besser sein, wo doch aufgrund der unvorstellbar schlechten Versorgungslage jeder in dieser Stadt Schwierigkeiten hat, seinen unmittelbaren Bedarf an Grundnahrungsmitteln zu decken? [...]

Überhaupt scheint mir, daß er vieles (95 Prozent) von Lwow nicht mitbekommen hat. Er weiß noch nicht einmal, daß das ukrainische Zahlungsmittel der Koupon und nicht der Rubel ist. Wenn er davon spricht, daß sich die Stadt nicht übermäßig um Touristen bemüht, dann ist das einfach die Unwahrheit.

Betrachtet man von touristischer Seite diese Stadt, dann wird man feststellen, daß sie unwahrscheinlich viel zu bieten hat und daß trotz der absolut desolaten Finanzlage noch sehr viel getan wird. Als wohl überragendste Attraktion ist der „Kaiserwall“ anzusehen, ein Museumsdorf, in dem mehr als 20 Häuser und Kirchen mit Einrichtungen aus verschiedenen Epochen der gesamten Ukraine in Originalgröße aufgebaut sind und noch weitere folgen sollen. Weitere Attraktionen sind der Monumentenfriedhof mit Tausenden von monumentalen Gräbern der letzten 200 Jahre, ein Kindertheater der Größe des „Theater des Westens“ und zwei Museen. Noch vor einigen Jahren stellte die naturwissenschaftliche Fakultät der Universität ihre umfassende Sammlung aus, heute ist das nicht mehr möglich, weil die Räume einzustürzen drohen und keine Mittel zur Renovierung da sind.

In allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens ist „Geld“ das Zauberwort, und niemand weiß so recht, wie es weitergehen soll. Trotz alledem hat mich die Freundlichkeit und Herzlichkeit, mit der ich überall aufgenommen worden bin, einfach überrascht. Das wird einem auch im Straßenverkehr klar. Es ist ein für einen westlichen Autofahrer unvorstellbares Durcheinander von Autos, Fußgängern, Straßenbahnen, Bussen und Trolleybussen, aber es passiert nichts, und das alles, obwohl der Schnee nicht geräumt war.

Man muß sich irgendwie arrangieren, und das erscheint mir auch als ein wesentlicher Schlüssel zum Lebensverständnis dieser Menschen. Da ich dieses Arrangement mir gegenüber als Tourist angenommen habe, zeigten sie mir ihre Stadt. Von dieser Art des Tourismus steht natürlich nichts in den Prospekten, denn es gibt keine Prospekte oder Karten. [...] Dr.W.Grothaus, Berlin