■ Das Unheilsrezept des Militarismus
: Mit dem Pazifismus siegen lernen

„Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur vom Erdboden getilgt!“ Es scheint, als wäre dieser Glaube, im Oktober 1914 von 93 deutschen Prominenten in einem „Aufruf an die Kulturwelt“ verkündet, unaustilgbar. Denn obwohl dieses Land zuerst unter der Kriegsflagge mit dem kaiserlichen Adler, dann unter der mit dem Adler und dem Hakenkreuz die Welt in die schrecklichsten Katastrophen des ausgehenden Jahrhunderts gestürzt hat, taucht getarnter oder offener militaristischer Stärkekult beharrlich als Heilsrezept gegen Identitätsunsicherheit und Minderwertigkeitsängste auf. Natürlich verleugnet dieser Kult seinen wahren kollektivneurotischen Ursprung und feiert sich regelmäßig als hehre Tugend, als Kreuzzugsbereitschaft gegen diesen oder jenen Weltfeind, als Nibelungentreue gegenüber der großen Führungsmacht, gar als humanitäre Pflicht zur Rettung der Unterdrückten und Verfolgten.

Sitzen die Repräsentanten dieser deutschen Überkompensation an den Bonner Machthebeln, hilft ihnen nur eine konstante Pervertierung der Moralbegriffe, um die eigene Irrationalität gegen die Besorgten zu verteidigen, für die – aus der Erinnerung heraus – der Militarismus als solcher schlimmer ist als alle Übel, zu deren Eliminierung er sich als Rettungsstrategie auszugeben beliebt. So mußten sich diese Besorgten denn der Reihe nach die haarsträubendsten Verleumdungen gefallen lassen: Zuerst waren sie, weil sie den beiderseitigen Wahnsinn des atomaren Wettrüstens anprangerten, angeblich allesamt Kommunisten. Sie galten als Sicherheitsrisiko, weil sie das echte Risiko der horrenden Bedrohung anprangerten. Als schließlich Saddam Hussein in die verwaiste Menschheitsfeind- Rolle (Enzensberger) gerückt und damit zum vorläufigen „Retter der Nato“ (Zürcher Tagesanzeiger) avanciert war, kamen sie gleich zwiefach in Verruf: Weil sie der Führungsmacht des „Wüstensturms“ die gehörige Solidarität zu verweigern verlangten und obendrein durch ihren Widerwillen gegen das Blutvergießen zwei unverzeihliche Untugenden zu verkörpern schienen: Drückebergerei und Weinerlichkeit. Hinzu kommt neuerlich der Vorwurf inhumaner Rücksichtslosigkeit, nämlich die militärische Beistandspflicht für die hungernden Somalier und die verfolgten Bosnier zu leugnen.

Heute sieht nun jeder, daß der Wettlauf der nuklearen Bedrohungen nackter Irrsinn war, dessen gefährliche Folgen – Nuklearexporte in unsichere Länder – keineswegs gemeistert sind. Nicht einen Schritt hat der Golfkrieg den Nahostkonflikt einer Lösung und Israel dem Frieden nähergebracht. Er hat Massen an Opfern nicht zuletzt unter der irakischen Zivilbevölkerung gefordert, riesige ökologische Zerstörungen angerichtet – ohne die Macht des erklärten Kriegsgegners Saddam nennenswert zu schwächen. Und Somalia? Wenn die somalischen Clans es nicht wollen, werden sie nach Abzug der Amerikaner weiter morden und rauben.

Weder dort noch in Mosambik, Angola, Afghanistan, Kambodscha, Berg-Karabach, Abchasien, in Kurdistan wie in Bosnien wird es Frieden geben, wenn die Völker nicht auf Gewalt zur Austragung ihrer Konflikte verzichten wollen. Sie brauchen dazu allerdings Hilfestellung, ehrliche Vermittler, Nötigung zu Verhandlungen, auch gegebenenfalls Druck mit Sanktionen – durch eine demokratisierte UNO. An deren Autoritätsschwäche sind indessen ihre einflußreichsten Mitglieder, voran die USA, selber schuld, indem sie ihre wirtschaftlich-militärische Übermacht mit einem Vorsprung an moralischer Kompetenz verwechseln und sich als die berufene Weltpolizei aufspielen. Die Anfälligkeit für militärischen Machtmißbrauch teilen die USA wie die übrigen führenden Industrieländer mit allen anderen Völkern.

Ihre eigenen exportierten Waffen sind es, mit denen einige der brutalsten gegenwärtigen Kriege geführt werden. Deutscher Rüstungsexport setzte Saddam Hussein erst in den Stand, Israel zu beschießen. Um ein Haar hätte der aggressive Gaddafi dank deutscher Unterstützung über mörderische Chemiewaffen verfügt. Es ist obszön, wenn die Rüstungsexportländer in heilige Entrüstung über die Destruktivität anderswo ausbrechen, für die sie selbst die Instrumente geliefert haben.

Gewiß haben die stärksten Industriemächte eine besondere internationale Verantwortung, nämlich zu einem gemeinsamen Umdenken, zu einer Entmilitarisierung der politischen Strategien beizutragen. Daß Kanzler Kohl unmittelbar nach der Vereinigung nichts Eiligeres zu tun hatte, als die gewachsene deutsche Verantwortung rein militärisch zu definieren, und daß ihm Rühe, Waigel, Wörner, Naumann und selbst Bischöfe mit Eifer in der Forderung nach deutschen Kampftruppen für Einsätze in aller Welt folgen, ist makaber. Zuerst haben wir Deutschen doch zu beweisen, daß wir mit der Feindschaft und mit der Gewalt gegen Ausländer und andere Minderheiten im eigenen Land fertig werden, daß wir die massenhaft auftauchenden Reichskriegsflaggen in den rechten Quartieren und in den Sportstadien wieder zum Verschwinden bringen.

Zuerst müssen wir entschlossen und glaubwürdig den schändlichen Handel mit deutscher Kriegstechnologie unterbinden. Unsere besondere Verantwortung als wohlhabendes Land verpflichtet uns, für die Verfolgten, für die Verhungernden und die vergewaltigten Frauen in Bosnien-Herzegowina unsere Hilfeleistungen drastisch zu steigern und die Antikriegsbewegung in allen Teilen Ex-Jugoslawiens intensiver als bisher zu unterstützen.

Mit militärischer Intervention von außen lassen sich die vielen Brandherde in der Welt nicht löschen. Selbst wenn die UNO – wovon sie weit entfernt ist – mit überparteilicher Autorität handeln könnte, müßte sie darauf verzichten, durch Vervielfältigung höchst aufwendiger Polizeieinsätze die Mittel und Energien zu verbrauchen, die zur Bewältigung der Überlebensprobleme der Weltgemeinschaft bewahrt werden müssen – als da sind die rasende Bevölkerungsvermehrung auf der Erde mit schwindenden Ressourcen und fortschreitender Naturzerstörung. Wenn sich die Militaristen nicht als ihre eigenen Feinde erkennen, nämlich als Urheber der Destruktivität, die sie immer nur außerhalb wähnen, wird es stracks weiter bergab gehen. Und die Deutschen, die nach zwei verschuldeten Kriegskatastrophen und nach Hitler alle Chancen hatten, aus dem Erinnern zu heilsamem Vorbeugen aufzubrechen, würden dazu mit einem verlogenen Verantwortungsbewußtsein in besonderer Unverantwortlichkeit beitragen. Horst-Eberhard Richter

Der 69jährige Psychoanalytiker und Psychosomatiker gilt als eine der führenden Figuren der deutschen Friedensbewegung. Jüngste Publikation: „Umgang mit der Angst“ (1992).