■ Zwei Begriffe müssen in Osteuropa entpolitisiert werden
: Freiheit und Gerechtigkeit

Drei Jahre nach dem Ende des Kommunismus hat in Osteuropa die Frage der Gerechtigkeit der Frage nach der Freiheit den Rang abgelaufen. Die Ressourcen zur Verwirklichung von Gerechtigkeit sind allerdings noch viel geringer als jene zur Sicherung der Freiheit. Mit Macht taucht am Ende des Kommunismus wieder jene Frage auf, die auch an seinem Anfang stand: Wie ist Gerechtigkeit möglich? Das Problem blieb damals ungelöst und ist es heute noch. Die Kommunisten haben die Gerechtigkeit stets zu ihrem Thema gemacht und zu ihrer Rechtfertigung genutzt. Auch nach dem Machtverlust der Kommunisten ist es nicht anders. Der Weg in die Freiheit führt in die Ungleichheit. Erst das Gefühl der Unterscheidung verschafft den Menschen das Gefühl der Freiheit. Die Gleichheit ist ein Gefängnis der Gefühle. Freiheit kann sich wie Gerechtigkeit zwar kollektiv artikulieren, sie kann aber ebenso wie die Gerechtigkeit nur individuell bewahrheitet werden. Und doch treten nun, am Ende des Kommunismus, beide Begriffe als Antipoden auf. Freiheit erscheint offensiv, Gerechtigkeit defensiv. Die Erscheinungsform der Freiheit ist das Risiko, jene der Gerechtigkeit auf paradoxe Weise die Trägheit.

Zwei Verhaltensweisen beherrschten die kommunistische Partei Mittel- und Osteuropas während der Phase ihres Untergangs. Die einen versuchten, die Entwicklung zu blockieren, wie in der DDR oder Rumänien, die anderen suchten sich die gesellschaftlichen Oppositionsbewegungen unterzuordnen – so geschehen in Ungarn, in Polen und in den baltischen Staaten. Beide Verhaltensweisen beschleunigten den Zerfall der kommunistischen Gesellschaftsordnung, akzelerierten die Entropie des Systems. Die Freiheitsbewegungen des Jahres 1989 stellten einen Raum der Unordnung her, der in der Folgezeit zur Voraussetzung jeder Art von Entwertung wurde. Die Negation stieg zum obersten Prinzip allen öffentlichen Handelns auf.

Die kommunistischen Parteien und der von ihnen repräsentierte Interessenblock kämpften ums pure Überleben. Gleichzeitig waren sie der einzige überschaubare Ort in der politischen Landschaft Osteuropas. Zu Beginn der postsozialistischen Zeit konnte man noch am ehesten sagen, wer zu den Anhängern der Kommunisten zählt. Es waren alles Leute in der Defensive, von den Funktionären des kommunistischen Apparats bis zu den Arbeitern in den unrentablen Großbetrieben. Die Anhängerschaft der antikommunistischen und nichtkommunistischen Parteien dagegen bleibt bis heute schemenhaft. Ihre soziale Basis ist nicht beschreibbar. Während auf der nichtkommunistischen Seite der Gesellschaft die Motivation der Anhängerschaft weitgehend auf Absichten, Optionen und Hoffnungen beruht, kurz, auf allem, was Ausdruck eines generellen Bedürfnisses nach Veränderung war, sind auf der kommunistischen Seite diejenigen versammelt, die durch den Untergang des kommunistischen Ordnungssystems etwas oder alles zu verlieren haben. Das Engagement der postkommunistischen Seite hat folglich einen ungleich konkreteren Hintergrund als jenes auf der nichtkommunistischen. Die historisch reaktionären Kräfte sind politisch kohärenter als die historisch progressiven.

Drei Jahre nach dem Ende des Kommunismus erscheint das Selbstverständnis seiner politisch organisierten Gegner in einer tieferen Krise als jenes seiner ehemaligen Protagonisten. Die Freiheit hat ihre Attraktivität eingebüßt. Der Antikommunismus legitimiert die Politik nur unzureichend. Die anhaltende Wirtschafts- und Organisationskrise, die auch eine Autoritätskrise ist, hat den Ausstrahlungsraum der öffentlichen Moral verschüttet. Weil die Wirtschaftsreformen zuerst einmal den wahren Zustand der postsozialistischen Ökonomie und Gesellschaft zutage fördern und so gut wie nichts über dessen Überwindung verraten, ist dem nichtkommunistischen Horizont eine überzeugende Perspektive genommen. Die Frage der Freiheit spitzt sich zur Frage nach der Gerechtigkeit zu, womit Gerechtigkeit und Freiheit im öffentlichen Raum unversehens gegeneinander stehen. Vielleicht haben die nichtkommunistischen Kräfte den menschlichen Sinn für Gerechtigkeit unterschätzt, so daß die Kommunisten den Begriff und die Sache auch weiterhin und zukünftig okkupieren können?

Ich glaube nicht. Die Grundfrage in Osteuropa ist weder die nach der Freiheit, noch die nach der Gerechtigkeit, es ist vielmehr die Frage nach der Substanz. Die Grundfrage allen politischen Handelns in der tiefen Krise Osteuropas müßte lauten: Was erlaubt uns der Zustand unserer Substanz eigentlich zu tun? Welches sind die Grenzen, in denen wir uns bewegen müssen, einmal vorausgesetzt, Freiheit sei garantiert und Gerechtigkeit ermöglicht? Die Frage nach der Substanz ist machtpolitisch nicht verwertbar. Sie zu beantworten erfordert Einsicht in die eigenen gesellschaftlichen Grenzen, verlangt umfassendes, vorurteilsloses Wissen um das von den Kommunisten hinterlassene Desaster.

Es ist nicht mehr als eine Farce, wenn die gewendeten Kommunisten sich jetzt überall als Anwälte der Schwachen aufführen und den Ruf nach Gerechtigkeit auf ihre Fahnen schreiben. Der Machtkampf ist in Osteuropa leider nirgends beendet, er wird auf vielfältige Weise in den verschiedenen Ländern fortgeführt. Die ratlose Politik stürzt sich geradezu in den Machtkampf. Nichtkommunisten und Antikommunisten stehen gegen Kommunisten, Antikommunisten gegen Nichtkommunisten und Nichtkommunisten gegen Nichtkommunisten, Antikommunisten und Kommunisten verbünden sich. Nationalistische Gruppen greifen ebenso nach der sozialen Frage wie bisher die Kommunisten. Alle suchen die zentralen Themenstellungen an sich zu reißen, um sie für ihre Gruppe nutzbar zu machen.

Dabei geht es im großen und ganzen um nicht mehr als zwei Problemkreise: die Wirtschaftsreform und den Aufbau des Rechtsstaats mitsamt des Mehrparteiensystems. Das ist überall Konsens. Auch die gewendeten Kommunisten fordern die Marktwirtschaft, rechtsstaatliche Verhältnisse und ein demokratisches Vielparteiensystem. Doch leider werden all diese Themen inhaltlich der Machtdemagogie der einzelnen politischen Gruppen untergeordnet. So beschäftigt man sich allen Ernstes seit nunmehr vier Jahren und bei weiterhin zunehmender Polarisierung mit der Frage, in welcher Geschwindigkeit die ökonomischen Strukturen zu reformieren sind. Niemand aber spricht von den Grenzen der Substanz.

In Osteuropa befindet sich die Grundstruktur der Wirtschaft und Gesellschaft auch vier Jahre nach dem Ende des Kommunismus in einem Zustand unfaßbarer Verrottung. Korruption, Gesetzlosigkeit, Kriminalität, Vetternwirtschaft, Schlendrian und Arbeitslosigkeit sowie mangelnde Produktivität prägen das Bild. Einzelne Gruppen suchen aus jeder Veränderung persönliche Vorteile zu ziehen. Überall haben die Angehörigen der ehemaligen Nomenklatura versucht, ihre sozialen Positionen über den kommunistischen Machtverlust hinaus zu retten und neu zu verankern. Sie nützen die gewendeten kommunistischen Parteien als öffentliche Pressure-Groups, oft auch zur Verwirrung öffentlicher Debatten, wofür die Gründung der „Komitees für Gerechtigkeit“ im Sommer 1992 ein bezeichnendes Beispiel liefert. Aber noch viel wichtiger ist, daß die Nomenklatura weiterhin ein Herrschaftswissen besitzt – nicht zuletzt über den in den meisten Ländern Osteuropas immer noch bestehenden, ehemals kommunistischen Verwaltungs- und Beamtenapparat. Solche Kenntnisse werden nicht nur erfolgreich auf allen Ebenen des Machtkampfs eingesetzt, sie werden auch bei Privatisierungen vormals öffentlichen Eigentums zur Sicherung materieller Vorteile genutzt.

Es gibt Länder, wie Rumänien, in denen wird die Privatisierung von der Nomenklatura selbst durchgeführt. So organisiert sie ihren eigenen Untergang, sie wickelt sich, gleichsam selber ab, um in den neu entstehenden Eliten wieder aufzutauchen. Diese Nomenklatura hat sich nicht nur von den Zielen des Kommunismus verabschiedet, sie hat auch den Anspruch auf repressive, gesamtgesellschaftliche Kontrolle um so leichteren Herzens fallen gelassen, als sie sich gegenwärtig ganz der persönlichen Bereicherung, beziehungsweise der Geld- und Vermögenswäsche widmet. Später werden ihre ökonomischen Positionen ihr sowieso neue Machtmöglichkeiten sichern und verschaffen.

Freiheit und Gerechtigkeit müssen in Osteuropa entpolitisiert werden, um ihre Kraft in den Herzen der Menschen und damit für die dortigen Gemeinschaften wiederzugewinnen. Richard Wagner

rumäniendeutscher Schriftsteller; Vorabdruck aus seinem Ende März bei Rotbuch erscheinenden Aufsatzband „Mythendämmerung“