Als staatenlose Fremde in Estland

Russische Arbeiter fürchten die Arbeitslosigkeit mehr als nationalistische Ablehnung/ Die wirtschaftliche Not verbindet die beiden Völker, die bislang nur getrennt voneinander lebten  ■ Aus Tallinn Peter Dammann

Marat Tschechkatowski arbeitet seit 33 Jahren in den Dvigatel- Werken in Tallinn als Stahlzerschneider. Jeden Morgen steht der 58jährige Belorusse um 6.45 Uhr im Umkleideraum vor seinem Stahlschrank, streift sich seine Schweißerbrille über die Mütze und nimmt für die Frühstückspause eine alte Prawda aus dem Stapel in seinem Schrank. In einem schmutziggrauen, von Funken durchlöcherten Drillichanzug geht er durch eine fußballfeldgroße Halle zum Treffpunkt seiner Brigade. „Hier haben wir die Reaktorgehäuse vom Typ Tschernobyl für alle Atomkraftwerke im Norden der Sowjetunion gebaut“, sagt er. „Wir waren ein Allunionsbetrieb und die letzten zwanzig Jahre dem Ministerium für Atomenergie und Atomindustrie unterstellt.“

Die Dvigatel-Werke waren lange ein Zentrum des Widerstandes gegen die estnische Unabhängigkeit. Als 1991 über der Altstadt von Tallinn die rote Fahne gegen die estnische Fahne ausgewechselt wurde, streikten die Arbeiter. Marat, Kommunist und Parteisekretär, befürwortete dagegen die Unabhängigkeit Estlands, weil er für Perestroika und mehr Autonomie der Republiken war. Wie fast die Hälfte der russischsprachigen Bevölkerung stimmte er bei einem Referendum für die estnische Unabhängigkeit. Als die estnische Republik ihr Staatsbürgerschaftsgesetz verabschiedete, wurde er, wie über 90 Prozent seiner dreitausend Kollegen bei Dvigatel, staatenlos, weil er und seine Eltern nicht vor der sowjetischen Besatzung im Zweiten Weltkrieg in Estland gelebt haben. An den Parlamentswahlen durfte er nicht teilnehmen.

„Estland im Griff von Ethnokraten“, schrieb der Guardian, „Geist der völkischen Arroganz“, kommentierte Die Zeit die politische Entwicklung. Aus den Wahlen gingen zwei nationalistisch- konservative Wahlbündnisse und die „Nationale Estnische Unabhängigkeitspartei“ als stärkste Kräfte hervor. Alle drei sehen Estlands Unabhängigkeit vor allem durch die starke russischsprachige Minderheit (40 Prozent in Estland, über 50 Prozent in der Hauptstadt Tallinn und über 95 Prozent in der Industriestadt Narva) gefährdet.

Es ist 6.50 Uhr. Die vier Stunden Dämmerung, die an den meisten Wintertagen das Tageslicht in Tallinn ausmachen, sind noch nicht angebrochen, die Halle ist bis zum Arbeitsbeginn um 7.00 Uhr nur schummrig beleuchtet. Erst wenn die Brigadeleiterin Tanja die Arbeitsanweisungen an Marat und seine Kollegen verteilt hat, werden die Deckenscheinwerfer eingeschaltet. „Wir müssen Energie sparen.“ Auch bei der Heizung – es wird überhaupt nicht geheizt. Die Temperatur liegt knapp über Null. Bei Außentemperaturen von minus 10 Grad kann Marat nicht mehr arbeiten. Die Wasserkühlung für seine Schneidegeräte gefriert dann.

In den Dvigatel-Werken wurden nicht nur Atomreaktoren gebaut. Es gab auch Abteilungen für Weltraumforschung, Chemie- und Lebensmittelanlagen, Filter- und Kranbau. Inzwischen sind viele Bereiche stillgelegt, von viertausend Arbeitern und Angestellten wurden tausend gekündigt. Der Betrieb soll privatisiert werden. Marats Abteilung wird wahrscheinlich eine Aktiengesellschaft. Eine finnische Firma will investieren. Zur Zeit werden Getreidesilos und Heizungsanlagen für die finnischen Auftraggeber gebaut.

Obwohl Marat auch Schweißer ist, haben sie ihn über Jahrzehnte immer nur den Stahl zuschneiden lassen. „Sie wußten, daß ich als Kommunist die Arbeit mache, die keiner machen will.“ Obwohl er Parteisekretär war, machte er keine Karriere. „Ich bin lieber ein guter Arbeiter als ein schlechter Abteilungsleiter“, meint Marat.

An diesem Morgen muß er einen 5.000 Kilo schweren Titanklotz zerteilen. Die gleißende Schnittstelle spuckt Funken und schwarzweiße Qualmwirbel. Obwohl Estland keine Buntmetallvorkommen habe, gehöre es zu den größten Exporteuren der Welt, sagt Marat. Das ganze Metall werde aus Rußland weggeschafft. „Dreißig Tonnen Titan lagen hier tagelang in der Halle, als ob sie niemandem gehören. Ich wollte es schon privat verkaufen, um mir einen amerikanischen Wagen anzuschaffen“, grinst der Kommunist.

Sein Parteibuch habe er nicht abgegeben. Viele Kommunisten seien heute Antikommunisten. Jelzin zum Beispiel. Marat war mit sieben Jahren bei Partisanen in den Wäldern Belorußlands. Sein Vater war Politkommissar einer internationalen Brigade. Nach dem Krieg war er dann im Komsomol und in der Partei. Parteisekretär sei er nur geworden, weil die Kollegen ihn gewählt haben. Einer habe es ja machen müssen.

Um 9 Uhr geht das Licht in der Halle wieder aus, Frühstückspause. Um den Lichtkegel einer Neonröhre kauern die Männer der Brigade am Tisch, trinken heißen Tee und spielen Domino. Die ganze Brigade ist russischsprachig und staatenlos. Angst vor einer Entwicklung wie in Moldawien haben die Männer nicht. Vor der Wahl im Oktober habe es zwar von den Politikern und auf der Straße häufig russenfeindliche Äußerungen gegeben, jetzt hätten sich aber alle beruhigt. „Es geht allen gleich schlecht. In den Geschäften sind es Russen und Esten, die ihr Kleingeld zählen müssen“, sagt Marat.

Einer der Männer will mit seiner Familie auswandern, Marat nicht. „Wo soll ich denn hin?“ fragt Marat. Er könnte in die russische Botschaft gehen, sich dort in die Schlange der täglich 500 bis 800 ehemaligen Sowjetbürger einreihen, um sich zu informieren. Er könnte einen russischen Paß beantragen. Aber wo sollte er damit hingehen? Sein Heimatdorf liegt in der gesperrten Zone um Tschernobyl. Seine Frau, die als Sekretärin bei der russischen Marine mit dem Rückzug der Truppen bald arbeitslos wird, kommt aus Georgien. In Georgien ist Krieg.

Marat bliebe, die estnische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Aber das ist nicht so einfach. Er müßte eine Treueerklärung für den estnischen Staat abgeben und eine Sprachprüfung mit der Kenntnis von rund 1.700 Wörtern bestehen. Aber die Russen blieben Fremde in Estland, sagt er, selbst wenn sie die Sprachprüfung ablegen und die estnische Staatsbürgerschaft bekommen. „Bisher wurden Russen und Esten immer getrennt. In dieser Abteilung hat zum Beispiel nie ein Este gearbeitet“, erklärt Marat.

Auch das private Leben findet getrennt statt. Unter den Bekannten von Marat ist nur eine Estin, und die spricht akzentfrei russisch. Einen estnischen Sprachkurs für einen halben Monatslohn zu belegen sei zu teuer. Marat will, wie die meisten seiner Kollegen, „erst mal abwarten“. Die Staatenlosigkeit macht den Männern in Marats Brigade nicht die größte Sorge. Angst haben sie davor, arbeitslos zu werden. Auch Marat, der eigentlich schon seit drei Jahren Rentner ist, könnte von seinen 250 Kronen Rente nur den monatlichen Broteinkauf bezahlen.

Generaldirektor Vladimir Galkin ist seit einem Jahr der neue Chef der Werke. Der alte Direktor – entscheidend an den Streiks gegen die Unabhängigkeit Estlands beteiligt – ist geflohen. Galkin hat fast alle Abteilungsleiter ausgetauscht und im Betrieb aufgeräumt. „Sehen Sie hier“, er zeigt einen Stapel Schwarzweißfotos, „überall im Betrieb gab es diese Schrotthaufen. Die reinste Materialverschwendung.“

Die Politiker wollen, daß die Dvigatel-Werke für den Westen produzieren, aber noch verkaufen sie 50 Prozent ihrer Produktion an die ehemaligen Republiken der Sowjetunion. „Im Westen wartet niemand auf uns“, sagt Galkin. „Wir haben erst mal angefangen, Getreidesilos und Bierfässer für Westfirmen zu bauen; von unserer Qualifikation her könnten wir viel hochwertigere Anlagen bauen.“

Gut gelaunt kommt Marat die Treppe von der Kantine herab. Er hat sich den Luxus eines Mittagessens geleistet, eine Kohlsuppe mit viel Zwiebeln. Es hat ihn geärgert, daß es schon seit Monaten keine Messer mehr in der Kantine gibt, daß er die Roulade mit den Fingern zerkleinern mußte. Trotzdem ist ein Essen in der Kantine etwas Besonderes, das er sich nur zweimal in der Woche leisten kann. 923 Kronen beträgt der Durchschnittslohn der Metaller, das sind kaum mehr als 100 Mark.

Mit dem neuen Direktor ist Marat einverstanden. In der letzten Woche habe der zwei Arbeiter aus der Abteilung entlassen, weil sie beim Buntmetalldiebstahl erwischt wurden. Die Namen der Männer hängen jetzt am Schwarzen Brett. Der Buntmetalldiebstahl sei eine Plage in Estland geworden, sagt Marat. In seiner Wohnsiedlung seien alle Fahrstühle kaputt, weil das Kupfer gestohlen wurde.

Brigadeleiterin Tanja trägt eine blaue Baskenmütze, passend zu ihren blaugrauen Augen. Sie ist den ganzen Tag in der Halle, kontrolliert die Arbeit und koordiniert den Einsatz der Kräne. Sie ist stolz darauf, Brigadeleiterin geworden zu sein, obwohl sie keinen Hochschulabschluß hat. Sie hat die estnische Staatsbürgerschaft schon beantragt. Da ihre Mutter vor dem Krieg in Estland lebte, ist es für Tanja kein Problem, die estnische Nationalität zu bekommen, obwohl sie nicht estnisch spricht. Trotzdem ist sie noch nicht sicher, ob sie wirklich Estin werden will. Sie hat Verwandte in Rußland und befürchtet, sie dann nur noch schwer besuchen zu können. Auch Tanja will „erst mal abwarten“.

Für ihre Kinder, die in Estland geboren sind, ist das keine Frage: Sie wollen in Estland bleiben. Tanjas Tochter studiert an der Technischen Universität. Sie ist in eine estnische Studiengruppe gewechselt, um die Sprache noch besser zu lernen. Auch Marats zwanzigjährige Tochter, die eine Hebammen- Ausbildung macht, lernt Estnisch und will auf jeden Fall in ihrer Heimat bleiben.

Um 16 Uhr ist Feierabend. Marat ist in Mantel und Pelzmütze, ohne seinen zerlumpten Arbeitsanzug und die Schweißerbrille kaum wiederzuerkennen. Er hat es nicht weit: über die Bahngleise zur Straßenbahnlinie 4 und dann zwei Stationen. Erst seit fünf Jahren bewohnt er mit seiner Frau, seiner Tochter und seinem fünfzehnjährigen Sohn eine Dreizimmerwohnung. „Er war immer in der Partei. In der Gewerkschaft, wo die Wohnungen, wo alles verteilt wurde, da war er nie“, lacht seine Frau liebevoll.

Marat stellt den Fernseher im Wohnzimmer an, dann zeigt er ein Buch aus seiner Kindheit: „Was ein Partisan wissen muß“. Er schenkt Schnapsgläser bis zum Rand mit armenischem Kognak voll und riecht mißtrauisch am Glas: „Die Flasche ist echt, aber heutzutage weiß man nie, ob sie nicht etwas anderes eingefüllt haben.“ Dann hebt er sein Glas: „Trinken wir darauf, daß die Faschisten nicht wieder hochkommen!“