■ Udo Knapp zum Ende von Opposition
: Krise? I wo!

Die derzeitige Tendenz zu großen Koalitionen ist kein Krisensymptom des repräsentativen Systems in der Bundesrepublik. Sie kennzeichnet eher politische Elastizität, und sie ist zugleich Antwort auf die Anpassungsprobleme nach der Wiedervereinigung, dem vorläufigen Ende utopischer Systemalternativen und der Planetarisierung von Kapitalismus und Demokratie.

Die beiden großen Thesen der interpretierenden Klasse – von der Politikverdrossenheit der Bürger als auch der Unfähigkeit der Politik, zu handeln – sind einfach falsch. Das Interesse an Politik, die Politikbereitschaft großer Mehrheiten der Bevölkerung in Ost und West ist größer und leidenschaftlicher als jemals zuvor in den letzten 30 Jahren: kein Kneipenbesuch, kein Sonntagsspaziergang und keine Arbeitspause mehr ohne politische Gespräche. Nur weil die Wahlbürger den großen Parteien ihre Stimmen vorenthalten oder protestierend umverteilen, sind sie noch lange nicht zur unberechenbaren Masse geworden, vor der man sich fürchten müßte. Im Gegenteil. Der repräsentative Mechanismus funktioniert. Das ist die Botschaft der Hessenwahl.

Die Qualität des politischen Führungspersonals in der vom Weltwind so wohl abgeschirmten Bundesrepublik ist nicht schlechter als all die Jahre zuvor. Mag sein, daß es nur wenige große Redner im Bundestag gibt, mag sein, daß sich zuwenig führende Köpfe energisch genug von ihren eingeübten Rollen lösen können und daß der Zwang, Politik ohne Grundsatzalternativen machen zu müssen, noch nicht das alltägliche Handeln leitet – all dies und viele andere Defizite ändern jedoch nichts daran, daß die zentralen Entscheidungen der letzten drei wilden Jahre richtig waren: Die Wiedervereinigung, der entbehrungs- und dennoch erfolgreiche Anpassungskampf der Bürger der neuen Bundesländer an die Demokratie und nun mit dem Solidarpakt der langjährige Verzicht auf Wohlstand zugunsten langfristiger Entwicklung für das ganz Land demonstrieren Handlungsfähigkeit.

Die gleiche große Koalition, die diese Entscheidungen letztlich ermöglicht hat, wird das Asylrecht anpassen, ohne es abzuschaffen, das Agieren der Bundesrepublik auf der Bühne planetarischer Politik durch gleichberechtigte Beteiligung der Bundeswehr an Kampfeinsätzen der UNO zustande bringen und beides auch noch vor der Bundestagswahl 1994. Mehrheiten für diese Politik gibt es in der Bevölkerung schon seit einiger Zeit. Auch wenn die soziale Ungerechtigkeit in den nächsten Jahren in vieler Hinsicht unerträglich zunehmen wird, wissen doch alle, daß der Neuanfang Einschränkungen für alle zur Folge haben muß. Daß die starken Schultern dabei weniger tragen müssen als die schwachen ist unsozial, wird aber nicht zum machtentscheidenden Thema der Wähler werden. Dazu sind die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik insgesamt und vor allem im Vergleich zu den Nachbarn in Ost und West einfach zu stabil. Das, was als Krise beschworen wird, ist nicht mehr als der schmerzhafte, aber gewollte Anpassungsprozeß an die Bedingungen einer gewachsenen Bundesrepublik Deutschland. Dabei liegt das Problematische an dieser Transformation nicht eigentlich in ihr selbst, sondern eher in ihrer Darstellung begründet. Von 1968 bis zur Wende 1989 war die Fortentwicklung der Demokratie an den so erfolgreichen antiinstitutionellen und antiautoritären Protest gebunden. In der jetzigen Phase gilt es, die Legitimität der Institution, der Macht und des Amtes, die Notwendigkeit und die Auszeichnung, gut regieren zu dürfen, zu befestigen. Das Schlimmste an der augenblicklichen Haltung der Politik ist es, daß sich ihre Repräsentanten immerzu für das, was unausweichlich getan werden muß, entschuldigen. Ja, noch unangenehmer, den Wählern die Wahrheit, die sie selbst kennen, nicht zumuten wollen. Immer noch wird die ganze Brutalität der ökonomischen Zwänge hinter einem „So schlimm wird es schon nicht werden“ kaschiert.

Die Demokratie repräsentativen Typs ist zwar gebunden an den Souverän, den Wahlbürger und die Wahlbürgerin, lebt aber im Kern vom Willen und der Fähigkeit der ins Amt berufenen Repräsentanten, auch gegen den Souverän das Gemeinsame, das Gemeinwohl in den Mittelpunkt der Entscheidung zu rücken. In diesem Sinne ist das Auflösen der einfachen Oppositionsstrukturen von Schwarz und Rot, von CDU und SPD, von Rechts und Links zu einer Konkurrenz um die Frage geworden, wer besser regiert, wer die Anpassung an eine demokratische Politik ohne Systemalternative plausibler vollziehen kann.

Die große Koalition, von der ich hier spreche, soll also weder eine populistische Angstkoalition vor Stimmenverlusten sein, noch sich ausschließlich als Krisenmanagement verstehen. Sie ist nur dann zu rechtfertigen, wenn sie sich dem Auftrag stellt, der gewachsenen Bundesrepublik die verantwortungsethischen Grundlagen zu verschaffen, die sie braucht, um ihre Rolle als wesentliche demokratische Säule in der westlichen Welt auszufüllen. Nur eine solche Koalition etwa kann ein Einwanderungsgesetz, das den Asylkompromiß zwingend noch ergänzen muß, zustande bringen. Für die beiden großen Parteien bedeutet das auch nach innen eine gewaltige Politisierung.

Dabei wird es den Sozialdemokraten nicht erspart bleiben, sich vorsichtig von „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ zu lösen und zu der entscheidenden Verantwortungspartei zu werden, wollen sie denn regieren. Daß die Sozialdemokratie dabei ihr besonderes historisches Gewicht als die sozial verantwortliche Alternative in der Bundesrepublik Deutschland behalten muß, ist selbstverständlich. Ob aber die Formel von der Kleine-Leute-Partei dabei hilfreich ist, kann eher bezweifelt werden. Denn die sogenannten kleinen Leute laufen den Sozialdemokraten in Krisensituationen in der Regel nach rechts davon. Das war in Deutschland schon immer so.

Die Grünen auf der anderen Seite sollten sich nicht zu früh auf die Rolle der einzigen demokratischen Opposition im nächsten Bundestag freuen. Sie müssen sich dort gegen die Nazi-Musik Schönhubers abgrenzen und zugleich die sicher wirksame Neu-Ordnungspolitik einer großen Koalition plausibel kontrastieren. Es ist bisher noch nicht einmal in Anzeichen ersichtlich, wie Joschka Fischer und seine Grünen dieses Problem lösen wollen. Eine Argumentation pur gegen eine große Koalition wird in dieser Situation in keinem Fall ausreichen.

Die Konsolidierung der zentralen Institutionen der Demokratie durch die Zusammenarbeit von CDU und SPD in den nächsten Jahren ist deshalb kein Krisenmanagement, sondern notwendig, damit die Basis für eine erneute Ausdifferenzierung der politischen Positionen erst wieder ermöglicht wird. Alle Alternativen zur großen Koalition unter den neuen Bedingungen der Vereinigung haben schlechte Karten.

Der Autor ist stellvertretender Landrat (SPD) für so ziemlich alles im mecklenburg- vorpommerischen Wolgast.