Dumpfes Unglück

■ Georg Seidels „Carmen Kittel“ im Theater Zerbrochene Fenster

„Carmen Kittel“ dürfte neben „Villa Jugend“ das erfolgreichste Stück des vor drei Jahren mit nur 45 Jahren an Krebs gestorbenen DDR-Dramatikers Georg Seidel sein: Die Geschichte einer verzweifelt-einsamen Frau, die zwischen der miesen Arbeit in der Kartoffelschälbrigade und ihrem ebenso miesen Liebhaber gründlich zerquetscht wird.

Seidel zeigt das unsentimental, mit einem nüchtern-liebevollen Blick auf seine Figuren, für die es zwar heftige Sehnsüchte, aber nicht die winzigste Hoffnung gibt.

Es ist kein Zufall, daß das Drama nach der Schweriner Uraufführung 1987 auch auf den Westbühnen Erfolg hatte und nicht, wie die Stücke von Müller und Braun, als DDR-Exotikum bestaunt, sondern als Spiegel auch westdeutscher Realität verstanden wurde: die Konvergenz der Systeme im mentalen wie sozialen Elend.

Mechthild Erpenbecks professionelle, für Off-Verhältnisse beeindruckend präzise Inszenierung im Kreuzberger Theater Zerbrochene Fenster kommt denn auch ohne ideologische Versatzstücke aus: Die Aufführung erzählt lakonisch und fast ohne kunstgewerblerische Mätzchen die Geschichte des Waisenkindes Carmen Kittel.

Eva-Maria Bartholomäus, die hier ihre erste größere Rolle spielt, zeigt diese Carmen Kittel als ein großes, hilfloses Mädchen, das sich nicht zurechtfindet in der Welt, sich während der Arbeit im Klo versteckt, um vor sich hin zu träumen, immer verwundert staunend.

Naiv ersehnt sie sich die Liebe und wird doch bloß geschwängert, auf Drängen des Herren treibt sie das Kind ab. Für ein erotisches Wunder (das der an Mérimée und Bizets Oper erinnernde Vorname verspricht) halten sie nur die notgeilen Männer, sie selbst ist schlicht einsam: „Sie hatte eine Sehnsucht und wußte nicht wonach“ (um hier mal unsere tote Lieblingssängerin Nico zu zitieren.)

Der Plot des Stückes ist gröbste Konvention von Fleißer bis Kroetz, aber Seidels genauer Blick, die grotesken Momente, die irrealen Verschiebungen der Inszenierung brechen den direkten sozialen Realismus auf. Wörtlich genommen hat Stephan Dietrich den Namen der Titelfigur: Alle Figuren sind in grobe, braungraue, sackleinenartige Kittel gehüllt, sie bewegen sich in einer gleichermaßen dumpfen, farb- und freudlosen Welt. Martin Ostrowskys düster beleuchtetes Bühnenbild zeigt die Welt nicht fröhlicher: links ein Kartoffelberg, der Keller der Kartoffelschälbrigade. In der Mitte auf einem Podest Carmens winziges Zimmer, Sofa und TV – eine Gefängniszelle. Rechts eine Plexiglaswand, dahinter „die Tanzbar“. Trotz genauer Ausleuchtung der einzelnen Figuren geht es nicht um ihre individuelle Lage: das Elend ist kollektiv. Carmen setzt mit ihrer verzweifelten Affäre, dem nicht gewollten Schwangerschaftsabbruch, den leicht irren Lügen nur etwas grellere Akzente in eine selbstverständlich gewordene Normaltrostlosigkeit. Ihre Kolleginnen: feist gewordene, alternde Frauen. Ihr grober Liebhaber (Olaf John): ein dumpf mit Schnaps den Bauarbeiteralltag runterspülender Jüngling. Ihr Verehrer (Chris Dehler): ein grober unglücklicher Bauer. Zwei Journalisten, die das Elend vom Tresen aus kommentieren. Robuste Zyniker mit Anfällen von Sentimentalität: „Der Mensch, würde ich sagen, der Mensch überfordert sich... Das Meer unterdrückt bald sein eigenes Rauschen.“ Spätestens jetzt wußten wir, daß das Stück auch von uns handelt – prost. Peter Laudenbach

Georg Seidel: „Carmen Kittel“. Regie: Mechthild Erpenbeck. Mit Eva-Maria Bartholomäus u.a. Vorstellungen: bis 10. Mai Do.–Mo. 20.30 Uhr