Öffentlichkeit und Gewalt

Von der Ratlosigkeit angesichts von Worten, die töteten, zum Nachdenken über Gegenöffentlichkeit  ■ Von Oskar Negt

Nachdem bekanntgeworden war, daß in Berlin ein junger Mensch namens Bachmann Rudi Dutschke mit mehreren Pistolenschüssen schwer verletzt hatte, versammelten wir uns in Frankfurt spontan im Studentenhaus Beethovenplatz; einige Assistenten, Professoren und viele Studenten.

Die Stimmung an diesem Tag war gedrückt; die Betroffenheit über das Attentat erzeugte eine Art Lähmung, ganz anders als nach dem tödlichen Mordanschlag auf den uns völlig unbekannten Benno Ohnesorg im Juni des Vorjahres. Nach dem 2. Juni 1967 herrschte einhellig Empörung, die weit ins „bürgerliche Lager“ reichte. Professoren, Kirchenleute, Gewerkschafter und einzelne Politiker traten mit deutlich anklagenden und Polizei wie politische Führung Westberlins gleichzeitig verurteilenden Reden auf die Tribüne des Römerbergs. Auch ich hatte dort vor über 10.000 Zuhörern eine Rede zu diesem staatlichen Mordanschlag gehalten, mit der These, daß es sich hierbei offensichtlich um die Demonstration von Härte des staatlichen Machtapparates handele, der tödliche Verletzungen der Demonstrierenden bewußt einschließe.

Im April 68 hatte sich die Stimmungs- und Gesinnungslage der Nation bereits stark geändert. Wir hatten es mit einer sich „liberal“ gebenden Öffentlichkeit zu tun, die mit größter Betriebsamkeit die Rebellion der Studenten und Jugendlichen, deren Aktionsformen, ihre inhaltlichen Forderungen von Universitäts- und Schulreformen, die Protestmärsche gegen den Vietnamkrieg, überhaupt unbotmäßiges Denken und Verhalten, aus dem Bezugsrahmen der für eine demokratische Gesellschaft zulässigen und erträglichen Handlungsweisen ausgegliedert und mit erheblichen Propagandamitteln kriminalisiert hatte.

Unsere Stimmung nach dem Dutschke-Attentat war auch insofern verändert, als ein harter und eindeutiger Gegenstand der Empörung, wie es im Falle der Erschießung Ohnesorgs der staatliche Gewaltapparat war, hier fehlte. Jeder wußte zwar, daß das gegen die Studenten geschürte Haßklima, das in einem sonst eher unauffälligen jungen Anstreicher die Tat auslöste, wesentlich Arbeitsresultat des Springer-Medienkonzerns war, aber wie ist im Medium der Sprache Gewalt erkennbar zu machen?

Der Marsch zur Frankfurter Union-Druckerei, wo die Bild-Zeitung gedruckt und ausgeliefert wurde, war Ausdruck einer Verlegenheit; demonstrative Gewalt gegen ein Medium, das sich gewaltlos gab, aber mit Worten tötete und einfache Toleranzgebote täglich verletzte, sollte auf dem Wege von Auslieferungsblockaden Zeichen der Aufklärung über den verrotteten Zustand bürgerlicher Öffentlichkeit setzen. Ich erinnere mich daran, daß der damalige Frankfurter Oberbürgermeister Walter Möller, ein aufrichtiger linker Sozialdemokrat, vor Tausenden von Demonstranten unentwegt den Satz wiederholte: „Mir steht nicht zu, den Inhalt der Bild-Zeitung zu überprüfen. Meine Aufgabe ist es, den eingerichteten Gewerbebetrieb zu schützen, in diesem Fall also: die Auslieferung bedruckten Papiers zu sichern.“

Wir sahen das ganz anders. Aber mir war die Ohnmacht und Verlegenheit dieser Osterblockade-Aktivitäten gegen Formen der bürgerlichen Ausgrenzungsöffentlichkeit sehr schnell klar. Ohne Entwicklung eigener, ja eigen-sinniger Strukturen von kritischer, den Lebenszusammenhang der Menschen einbeziehender Gegen- Öffentlichkeit, war an der alten Misere verkümmerter gesellschaftlicher Öffentlichkeitsformen nichts zu ändern.

Überall war deshalb Ostern 68 und danach in Veranstaltungen des traditionsreichen Ostermarsches, bei Universitäts-Teach- ins, auf Kundgebungen am 1. Mai „Öffentlichkeit und Gewalt“ das zentrale Thema. Für mich selber war es seitdem dringlich, zunächst die spezifischen Beziehungen zwischen institutionalisierter bürgerlicher Öffentlichkeit (die für mich in toter, auf bloße Verteilung bestehender Meinungen gehende Arbeit bestand) und den lebendigen Arbeitsprozessen von Gegenöffentlichkeit zu untersuchen.

Lebendige Gegenöffentlichkeit positiv in eigenen Prozeßkategorien zu bestimmen und nicht, wie Jürgen Habermas es in seinem schon damals klassischen Werk getan hatte, als bloße „plebejische Variante“ der bürgerlichen Öffentlichkeit, war seit den Reaktionen auf das Dutschke-Attentat ein bestimmendes und bohrendes Erkenntnisinteresse für mich. Als ich ein Jahr später Alexander Kluge den Vorschlag machte, ein gemeinsames Buch darüber zu schreiben, stimmte er sofort zu, weil auch er seit langem an ähnlichen Fragestellungen arbeitete.

„Öffentlichkeit und Erfahrung“, unser gemeinsames Buch, stülpte die „bürgerliche Öffentlichkeit“ um, indem wir nicht nur deren umfassende Geltung in Frage stellten, sondern aufzuweisen versuchten, wie Formen und Gefäße des öffentlichen Ausdrucks von Emanzipationsinteressen aussehen. Im Symbolbegriff „proletarische Öffentlichkeit“ suchten wir jene Eigenschaften der Menschen und konkreten Produktionsprozesse zu bezeichnen, die in den bestehenden Herrschaftssystemen eingebunden, blockiert sind, in sich jedoch auch Befreiungs- und Selbstverwirklichungspotentiale, die des öffentlichen, gesellschaftlichen Ausdrucks bedürfen, um ihre eigentümliche politische Kraft entfalten zu können.

Zu beschreiben, wie dieser Ansatz von „Öffentlichkeit und Erfahrung“ sich weiterentwickelt hat, ist weder möglich noch nötig; unleugbar scheint mir aber, wovon die Gründung der taz und ihre spezifische Existenzform nur der sichtbarste und markanteste Ausdruck ist, der Tatbestand zu sein, daß kritische Formen der Öffentlichkeit seit Ostern 68 einen für die politische Kultur unseres Landes kaum überschätzbaren produktiven Beitrag geleistet haben.

Der Autor, 1934 im ostpreußischen Kapkein geboren, war in den 60er Jahren Assistent bei Jürgen Habermas und ist seit 1971 Professor für Soziologie an der TU-Hanover.