Im Schneckentempo voran

Mit Kindern wandern. Ein kleiner Ratgeber für unterwegs  ■ Von Ulrich Grober

Wenn man Kindern die Lust am Wandern vermitteln möchte, sollte man beginnen, ehe die Vorstellung, Autofahren sei die eigentlich normale Art der Fortbewegung, in Fleisch und Blut übergegangen ist. Fünf Kinder und drei Väter waren auf unserer Wanderfahrt dabei. Hanna, 5 1/2 Jahre alt, war die Jüngste. Jan war mit 7 der Älteste in der Kinderschar. Allesamt Großstadt- Kids, also mehr oder weniger verwöhnt und gestreßt, und zum erstenmal auf einer mehrtägigen Wanderung. Wir hatten uns eine Flußlandschaft ausgesucht, wollten dem Flußlauf von der Quelle bis zur Mündung folgen. Die Lauter – so steht's im „Brockhaus“ – linker Nebenfluß der Donau, Baden-Württemberg, 47 km lang, entspringt auf der Schwäbischen Alb, südlich von Urach. Fünf Tage hatten wir Zeit für unser Vorhaben. Die Ausrüstung, drei Zelte, Schlafsäcke, Bekleidung, Proviant hatten wir auf die großen und kleinen Rucksäcke verteilt.

Die erste und schwerste Belastungsprobe ließ nicht lange auf sich warten. In der ersten Nacht im Zelt, zwei Tage vor Pfingsten, dem lieblichen Fest, schlugen die Eisheiligen zu. Vereinzelte Schauer, nachts plus vier bis minus zwei Grad waren angesagt. In der Nacht prasselte ein Gemisch aus Regen, Schnee und Hagel auf die Zeltdächer. Als es hell wurde, standen in zwei Zelten Pfützen, was die Kinder zum Erstaunen der Erwachsenen belustigte. Vormittags klarte der Himmel auf. Und dann standen wir an der Quelle. In Gomadingen-Offenhausen, im Garten eines ehemaligen Klosters, das heute zum Pferdegestüt Marbach gehört, strömt die Lauter in einem Quelltopf zutage. Alle kosteten von dem Quellwasser. Die Feldflaschen wurden gefüllt. Auf zur Mündung!

Das Lautertäl'le, wie es liebevoll auf schwäbisch heißt, ist eine gute Landschaft zum Wandern mit Kindern. Der Weg folgt ziemlich eng dem Flußlauf, hat also kaum Steigungen, eher ein sanftes Gefälle, und es ist natürlich kinderleicht, sich zu orientieren. Die Straße, relativ schwach befahren, verläuft jenseits des Flusses. Am Unterlauf, wo sich die Anhöhen zu einer waldigen Schlucht verengen, verschwindet sie ganz aus dem Tal. Eine Flußlandschaft wird nie langweilig. Hinter jeder Kehre des Tales, an jeder Wegbiegung also tauchen neue Blickfelder auf: eine Wacholderheide oder eine Felsformation, eine Burgruine oder eine Kirchturmspitze. Die Wiesen haben keine Zäune. Das Ufer ist überall zugänglich – ein natürlicher Abenteuerspielplatz. Doch — jammerschade – unser Plan, ein Stück der Strecke mit Sack und Pack im „Indianerboot“ zurückzulegen, zerschlug sich. Der Bootsverleih war noch geschlossen.

Unterwegs, beim Gehen, einen guten Rhythmus für alle zu finden, ist ein echtes Kunststück. Unser tägliches Pensum: 10 km, nicht mehr. Es waren immer nur Augenblicke, in denen alle zusammen kraftvoll und zielstrebig in Bewegung waren. Die Interessen waren verschieden, die Kräfte ungleich. Zu unserem Rhythmus gehörten auch Phasen des Trödelns, des plötzlichen Stillstands, auch der spontanen Wettläufe, bei denen man sich manchmal auch für längere Zeit aus den Augen verlor. Ein Stück Schlangenhaut am Wegrand – und unweigerlich begann die fieberhafte Suche nach der Schlange, die sich da gehäutet hatte, und es konnte lange dauern, bis die Suche abgebrochen wurde. Die Abweichungen der Kinder vom Weg waren zeitraubend und kräftezehrend und schuld am Schneckentempo. Aber am Ende waren es genau diese scheinbar kleinen Erlebnisse, die sich eingeprägt hatten, die Zwischenfälle, nicht die von den Erwachsenen perfekt organisierten Abläufe.

Wir übernachteten auf sogenannten Zeltplätzen, von denen es auf der Alb ein paar Dutzend gibt (im Lautertal zum Beispiel bei Hundersingen und bei Indelhausen). Diese Zeltplätze, nicht zu verwechseln mit Campingplätzen, werden von den Gemeinden oder den Förstereien unterhalten. Eine Waldwiese hoch überm Tale oder ein Stück Brachland auf einer Bergkuppe, mitten auf dem Platz eine Feuerstelle, Tische und Bänke, aus Baumstämmen roh zusammengehauen, abseits ein Plumpsklo und eine Mülltonne – das ist alles an Ausstattung. Dafür gibt es keinen Rummel, und es kostet kein Geld. Fast wie wild Zelten. Alle packten mit an beim Zeltaufbauen und Brennholzsammeln. Richtig spannend wurde es dann beim Feueranmachen. Es brauchte seine Zeit und manchmal mehrere Anläufe, bis die Flammen hochschlugen, und noch länger, bis endlich das Essen gar war. Dafür schmeckte es aber besser als zu Hause. Am schönsten war die Zeit nach dem Abendbrot. Hinter uns wurde es dunkel und empfindlich kalt und ein bißchen unheimlich. Aber das konnte uns am Lagerfeuer nichts anhaben. Ein bißchen quatschen, ein bißchen vorlesen, dann krochen alle in die Schlafsäcke.

Die Schwäbische Alb ist das Land der Höhlen. Auf unserer letzten Etappe, nur noch ein paar hundert Meter vor der Mündung der Lauter, sahen wir am Steilhang auf der anderen Seite eine Öffnung im Fels gähnen. Ein Blick auf die topographische Karte. Dort war der geheimnisvolle Name Bettelhöhle eingetragen. Zurück zur Brücke, und dann standen wir vor dem Eingang. Zögernd traten die Kinder ein. Der Raum war dunkel und kühl, und die Stimmen hallten. Das über unseren Köpfen hangende Gestein wirkte bedrohlich. Ob hier wohl Fledermäuse schlafen? Auch Batman-Fans wird leicht mulmig. Oder ob hier früher einmal Menschen gehaust haben? Die Erwachsenen kramten die Bruchstücke ihres Wissens über die graue Vorzeit zusammen: von den umherschweifenden Steinzeitmenschen, die in den Albhöhlen Schlafplätze und Feuerstellen hatten und von hier aus auf Jagd gingen nach Rentieren, Bären und Wildpferden...

Der Weg ist das Ziel. Ja, stimmt. Aber ein markantes Ziel am Ende des Weges ist beim Wandern mit Kindern nicht ganz unwichtig. Auf einem kleinen Bootssteg direkt an der Einmündung der Lauter in die Donau, befreit von Rucksäcken und Wanderschuhen, ließen die Kinder die Beine baumeln. Einen Fuß in der Lauter, den anderen in der Donau. Ein letztes Mal auf so einer Frau-Holle-Wiese mit beinahe schulterhohen Gräsern, Kräutern und Blumen herumtollen. Es geschafft zu haben ist für alle ein tolles Gefühl.