Der geschmeidige Rebell

Helmut Digel, der neue Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), versucht den Eiertanz zwischen Macht und Moral  ■ Von Josef-Otto Freudenreich

Berlin (taz) – Klug wie er ist, hat Professor Helmut Digel vorgebaut. Er hat über sein neues Tätigkeitsfeld nachgedacht und ist dabei zu der Erkenntnis gelangt, daß die „Perspektive des Scheiterns groß ist“. Menschen alleine, so hat er von dem Systemtheoretiker Niklas Luhman gelernt, steuern die Realität nicht mehr. Die Leichtathletik schon gar nicht, sie ist, Stichwort Doping, ein „selbstzerstörerisches System“, wie der Soziologe Digel weiß. Jetzt ist er ihr Präsident – 49 Jahre alt und bei vollem Bewußtsein. Was treibt diesen Menschen zu solch scheinbar unsinniger Tat, wenn es nicht nur die Karriere, der unaufhaltsame soziale Aufstieg ist?

Chef der Leichtathletik zu sein, das kommt so ziemlich knapp hinter Egidius Braun, dem Fußballboß. Der Sohn eines Aalener Werkmeisters sagt zunächst, was man bei derlei Anlässen gemeinhin sagt. Das Amt sei eine Herausforderung und eine Chance, richtig Verantwortung zu tragen. Beides ist verständlich, und beides entbehrt auch nicht einer gewissen Logik. Der ehemalige Rückraumspieler des Handballbundesligisten SV Möhringen, ein gefürchteter Klopper im übrigen, hat sich nie als Nur-Wissenschaftler verstanden. Schon früh hat ihn sein Zieh- und Doktorvater Ommo Grupe gelehrt, daß der Spagat zwischen Theorie und (Funktionärs-)Praxis aushaltbar ist, wenn man dabei Moral und Macht auf beiden Schultern tragen kann.

Später trat Digel aus dem Schatten seines Mentors, wechselte von Tübingen nach Frankfurt und von dort nach Darmstadt, wo er Leiter des Sportinstitutes und zum umtriebigen Verbandskritiker wurde, der nicht einfach in den Elfenbeinturm zurückzuverweisen war, weil er Praxisbezug hatte. Gleichgültig, ob er in DSB-Gremien als kritischer Wissenschaftler auftrat oder als engagierter Wissenschaftler Entwicklungshilfeprojekte betreute, das Fernsehverhalten Jugendlicher erforschte oder Sportjournalisten die Leviten las. Je näher er freilich der Funktionärswirklichkeit kam, desto rundgeschliffener wurde er, desto deutlicher wurde die Begrenztheit seines Tuns.

Unvergessen seine Festrede vor den DLV-Delegierten in Bremen anno 1988, wo er forsch das Rotationsprinzip für Funktionäre forderte, viel Beifall dafür bekam und wenige Stunden später mitansehen mußte, wie ein entsprechender Antrag einstimmig abgemeiert wurde. Unvergessen auch sein Aufsatz „Römische Zeiten“ von 1992, in dem er trefflich wie kein anderer die Dekadenz der Funktionäre geißelte, die um ihre Olympia-Akkreditierungen wie Kinder kämpften, wenn sie „um die erste Reihe bei einem Kasperletheater ringen“. Was Wunder, daß sich manch einer angesprochen fühlte und zur Wehr setzte. Im Namen seiner Kollegen nahm ihn DSB- Präsident Hans Hansen zur Brust, und fortan hatte man den Eindruck, der liebe Helmut fühlte sich schuldig, weil ihm die Märklin-Eisenbahn entgleist ist.

Um keinen falschen Verdacht aufkommen zu lassen: Jener Helmut Digel ist mit Sicherheit einer der klügsten Köpfe im deutschen Sport. Wenn es darum geht, Probleme zu analysieren, Lösungen anzudenken und Perspektiven aufzuzeigen, dann ist er den meisten Sportführern um Lichtjahre voraus. Nur: Verstehen und erkären ist das eine, umsetzen und durchsetzen das andere.

Ein aufgeklärter Mensch wie Digel, ein Sozialdemokrat in der Tradition Willy Brandts (ein Achtundsechziger war er nie), vertraut auf den herrschaftsfreien Diskurs im Sinne Habermas', auf die Kraft der Vernunft, und stößt damit auf die normative Kraft des Faktischen, sprich auf viele, viele Betonköpfe. Vielleicht sollte er sich einmal bei seinem Vorvorgänger Professor Eberhard Munzert erkundigen, wie ihn die alte DLV-Mafia, die heute noch zu großen Teilen in Job und Würden ist, 1988 aus dem Amt gekantet und den Leistungsfetischisten Helmut Meyer (Doping hin, Doping her) auf den Schild gehoben hat. Der integre Munzert hat nicht eine Legislaturperiode überlebt. Digel weiß, daß er sich in einer „ähnlichen Lage“ befindet, daß Munzert „übel mitgespielt“ wurde, aber er wähnt sich im Vorteil. Er könne, so sagt der Soziologe, „manches eher vorhersehen“.

Nun gehört dieser Helmut Digel Gott sei Dank nicht zu jenen Menschen, denen jeder Selbstzweifel fremd ist. Noch heute räumt er ein, daß er nicht weiß, ob es eine weise Entscheidung war, auf den Schleudersitz des DLV-Chefs zu klettern. Ob er es durchhalten wird, ständig „gegen den Strom zu schwimmen“? Aber der geschmeidige Rebell ist auch kein Masochist. Natürlich, und das gibt er gerne zu, tut es der Eitelkeit gut, von der FAZ (deren politischen Teil er unmöglich findet) als „Hoffnungsträger“ der darniederliegenden Leichtathletik gefeiert zu werden. Natürlich registriert er aufmerksam, wenn er von Sport-Bild zum Thema gemacht wird. Weniger positiv gewiß („kennt keine Athleten, keine Trainer, keine Funktionäre“), aber in 600.000facher Auflage – und um eine Erfahrung reicher. Jener nämlich, daß ihn der Springer-Mann mit der „Behutsamkeit eines Pfarrers“ um den Finger gewickelt und anschließend in die Pfanne gehauen hat. Womit Digel nun auch weiß, woher der erste eisige Wind weht.

Zum Glück hat der gebeutelte Neu-Präsident aber auch noch Freunde. Einer sitzt im oberschwäbischen Biberach, und der hat ihm einen Brief geschrieben. Als Alt- Marxist müsse er ihn fragen, ob er noch alle Tassen im Schrank habe oder ihm die Frau davongelaufen sei (was nicht der Fall ist), daß er bei seinem Marsch durch die Institutionen endgültig auf den Hund gekommen sei. Als Vorsitzender eines Vereins beglückwünsche er ihn jedoch, weil da endlich einer sei, der den „Sauladen ausmistet“. Da wollen wir, in alter Spontimanier, mit Ermunterungsrufen nicht zurückstehen: „Du hast keine Chance, Helmut, nutze sie!“