Das Weh unserer Epoche

Ein Forum für die nicht ganz so Erfolgreichen: der „Stückemarkt“, auch dieses Jahr wieder im Beiprogramm des Berliner Theatertreffens  ■ Von Peter Laudenbach

Robert Walser verstand einiges von Erfolglosigkeit auf dem literarischen Markt. In einem kleinen Dramolett führt er vor, wie das Theater sich unbekannte Dramatiker vom Leibe hält: „Sie kommen mir bekannt vor, ich habe von Ihnen vor zwanzig Jahren geträumt, aber ich habe Eile, ich habe ein bißchen Zahnweh und infolgedessen, verstehen Sie, wenig Bedürfnis, das Weh unserer Epoche näher kennenzulernen“ – raunzt ein Dramaturg den Autor an, der ein Stück eingereicht hat.

Das „Bedürfnis, das Weh unserer Epoche näher kennenzulernen“, scheint, allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz, seit Walsers lakonischem Seufzer nicht größer geworden zu sein: Die ungespielten Stücke verstauben in den Schubladen, während sich die Theater mit aufgetakelten Klassikern und einem halben Dutzend arrivierter Gegenwartsautoren über Wasser halten. Wenn sie den Blick in die Gegenwart wagen, hieven sie kunstgewerbliche Kolportagestücke auf die Bühne – von neuer Ästhetik keine Spur. Der „Stückemarkt“, eine Begleitveranstaltung des Berliner Theatertreffens, versucht seit fünfzehn Jahren mehr oder weniger erfolglos, den Theatern unbekannte Gegenwartsautoren ans Herz zu legen: Schauspieler lesen die Stücke vor, eine bescheidene Ersatzöffentlichkeit.

Klaus Völker, der den Stückemarkt seit fünfzehn Jahren leitet, wirft den Theatern Bequemlichkeit und fehlenden Wagemut vor. Daß es nur selten zu Uraufführungen kommt, daß neue Stücke so gut wie nie von ersten Regisseuren inszeniert und erst recht nicht nach der Uraufführung nachgespielt werden, habe mit der Behäbigkeit und den Marktzwängen des deutschen Theatersystems zu tun. Selbst ein so erfolgreiches Haus wie das Deutsche Theater Berlin, setzt bei Gegenwartsstücken auf platte Kolportage („Berlin Bertie“, „Karate Billy“), und in Frankfurt vertraut man das Monologstück eines so wichtigen Autors wie Lothar Trolle einem so jungen Regisseur wie Jürgen Kruse an. Die (jungen und alten) Groß-Regisseure biegen am liebsten Klassiker, notfalls mit Gewalt, für die Gegenwart zurecht. Leander Haußmann, das Paradebeispiel für diese Strategie, begründet seine Vorliebe für Klassiker mit der Lust, ein Stück nicht nur adäquat umzusetzen, sondern selbst als Autor kreativ zu sein. Das ist bei neuen Stücken kaum möglich: Im von Narzißmus nicht freien Regietheater ist für Gegenwartsautoren kein Platz. Dennoch wird Haußmann in der nächsten Spielzeit am Münchner Staatsschauspiel eine Uraufführung auf den Weg bringen: „In den Augen eines Fremden“ von Wolfgang Maria Bauer. Bauer, dreißigjähriger Schauspieler und Dramatiker, dürfte eine der wichtigen Entdeckungen des diesjährigen Stückemarkts sein: Er zeigt irrlichternde Gestalten in einer realistisch-düsteren Szenerie: Als würden Figuren von Koltès durch Marcel Carnes Film „Hafen im Nebel“ geistern. Das atmosphärisch dichte Stück erzählt von verlorenen Figuren, die an einem verlassenen Badeort am Meer gestrandet sind, melancholisch ohne Sentimentalität, voller schwer faßbarer Trauer – kein „Zeitstück“ also, sondern eher ein Stück, das um das zeitlose Gefühl von Haltlosigkeit kreist.

Jenseits von gefälliger Kolportage reagiert ein anderes, vermutlich das wichtigste der in Berlin vorgestellten Stücke, auf die Gegenwart: Simone Schneiders großangelegtes Schauspiel „Die Nationalgaleristen“. Obwohl von Dritter Welt bis zu Asylanten allerlei Reizworte durch den Text schwirren, betreibt Simone Schneider alles andere als eine theatralische Bebilderung von Leitartikeln: Sie ist mit einiger Schärfe den mentalen Verwerfungen einer Gesellschaft „im Smog der Medien“ (Heiner Müller) auf der Spur: Ihre Figuren wirken wie traurige, verwirrte Überbleibsel der Gattung Mensch. Ständig fürchten sie, mit anderen verwechselt zu werden, seiner selbst gewiß ist keiner. Das kommt ohne die karikaturistischen Verzerrungen aus, mit denen etwa Rainald Goetz arbeitet, Simone Schneiders betreibt einen illusionslosen Realismus: Genauer als in ihrem Stück läßt sich die Demontage des Subjekts wohl nicht beschreiben. – Das hat nichts mit postmoderner Phraseologie, schlechtverdautem Baudrillard oder chicer Apokalypse zu tun – es ist nur ein frappierend präziser Blick auf gegenwärtige Mentalität, die die Autorin mit einiger szenischer Raffinesse und sprachlicher Schönheit vorführt. Es ist weit politischer als alle Stasi- oder Neonazi-Stücklein und widerlegt schlagend die These, im Theater sei derzeit wenig über den Stand der Gesellschaft zu erfahren.

Zwei andere Dramen des Stückemarktes nähren leider diese Ahnung, daß das Theater womöglich längst zum gemütlichen Anachronismus verkommen ist, mit unterhaltsamen oder politisch korrektem Kunstgewerbe: Herbert Berger liefert den deutschen Bühnen eine Kriminalgroteske, und Heidi von Pato eine Weltuntergangsszenerie: Sie verwurstet die zur Zeit besonders beliebten Neonazis und den neu ins Sortiment aufgenommenen Osteuropa-Flüchtling in ihrem Stück „Der elektrische Reiter“ – eher den Zeitgeist-Moden als der jüngsten Gegenwart auf der Spur: Die Tristesse ist nicht mehr als ein chices Versatzstück, die überhitzte Sprache abgestandener Expressionismus. Die Frage nach dem Zeitstück wird mit der Erkenntnis „Die Zeit ist ein Fahrrad“ oder, wahlweise „Die Zeit ist eine Gebärmutter“ beantwortet. Ihr Stück ist routiniert metiersicher gebaut und wird jedem Stadttheater zur Ehre gereichen. Mit ästhetischer Innovation hat es aber nichts zu tun – ein politisch korrektes Gebrauchsstücklein, bestenfalls. Ulrich Ziegers „Die Verlagerung der Steppe“, das fünfte Drama des Stückemarktes, hinterließ beim Zuhörer und Leser nur Müdigkeit und Unverständnis: „Das verstehen sie nicht. Sie müssen nicht alles verstehen.“ In der Tat.

Brauchbare Indikatoren für neueste subkutane Stimmungen, „das Weh unserer Epoche“, dürften zumindest die zwei oder drei gelungenen Stücke des diesjährigen Stückemarktes sein: Szenen von einigermaßen robuster Hoffnungslosigkeit, aufgebrochen nur von diffusen, kraftlosen Sehnsüchten, die gesellschaftlichen Brüche und Kräfte nicht an der Oberfläche der Tagespolitik sezierend, sondern in den Mikrostrukturen, den mentalen Labyrinthen.