Ohne Willy fehlt was

Bei den Sozialdemokraten in Eisenach wächst der Frust über die Bonner SPD / Sentimentale Erinnerung an die Gründung im Jahre 1989  ■ Aus Eisenach Michaela Schießl

Willy Brandt hat nichts gespürt von den Augen hinter der Mauer. Sie starrten ihn an, als er im Zug an Eisenach vorbeifuhr, dicht an der innerdeutschen Grenze entlang. „Wir sind extra auf den Berg gestiegen. Lange haben wir gewartet, bis der Zug auftauchte, ganz hinten am Horizont. Da sagte mein Großvater: Schaut hin, da drin sitzt der Willy.“

Und als „der Willy“ Jahre später aufgab, da wurde der Enkel geweckt, morgens um sechs mit Grabesstimme: „Mathias, steh auf, stell dir vor, der Brandt ist zurückgetreten.“ 1973 war das, und der müde Mathias Doth gerade mal 15 Jahre alt und in der FDJ aktiv. Und nicht im realsozialistischsten Traum hatte er je daran gedacht, daß dieses schlafraubende Idol des Großvaters einmal sein Karrierehelfer sein würde.

Heute ist Doth 35 Jahre alt, hat einen Omar-Sharif-Schnurrbart mit dem dazugehörendem Lächeln und ist Mitglied Nummer eins der SPD Eisenach. Immer noch kommt er ins Schwelgen, wenn er an den 27. Januar 1990 denkt: Ein unbeschreiblicher Moment sei das gewesen, als er Willy Brandt auf dem Eisenacher Marktplatz begrüßen durfte und seine Frau Sabine die Blumen überreichte. „Damals wußte kein Mensch, wer Ibrahim Böhme war, aber den Willy, den kannten sie alle vom Westfernsehen“, schildert Doth die Stimmung von damals. „Wissen Sie, hier in Eisenach hörte 40 Jahre lang die Welt auf, hier endete jeder Zug.“

Als Willy kam, drängelten sich 30.000 Menschen um die Symbolfigur der westlichen Sozialdemokratie. „Danach war der Mitgliederandrang kaum noch zu bremsen“, erinnert sich Thomas Levknecht, Geschäftsführer der SPD Kreis Eisenach/Gotha. Doch nach der verheerenden Wahlniederlage war die Zahl schnell geschrumpft: knapp 100 Mitglieder zählen die vier Eisenacher Ortsverbände heute, 500 sind im Kreis, knapp 6.000 im Land Thüringen aktiv.

Frustration jedoch ist den Eisenachern nicht anzumerken. Selbstbewußt wird die CDU als Auslaufmodell tituliert, die SPD als Partei der Zukunft gefeiert. Und immer wieder fällt das Schlüsselwort: Basisdemokratie. Sich auf die Meinung der Fraktion verlassen? „Warum denn“, sagt Sabine Doth, Geschäftsführerin der August-Bebel-Gesellschaft und politisch auf Landesebene aktiv. „Der Ortsverband ist die Basis, er kann Weisungen geben.“

So dekadent, wie die Partei im Westen ist, will man niemals werden im Ableger Ost. Zumal Idole fehlen: „Die Brandts und Wehners sind ausgestorben, es herrscht eine fremde, skrupellose Politik. Wir hören gar nicht mehr hin, was Bonn sagt“, schimpft Mitglied Miksch. Mathias Doth gar sieht seine Politik vom Westen her torpediert: „Alles, was wir hier an Vertrauen aufbauen, machen die da drüben kaputt.“ Beispiel 1.-Mai-Fest: Ein voller Erfolg war das, viele Thüringer Würste wurden verkauft und literweise Bürgernähe hergestellt. „Und dann tritt der Engholm ein paar Tage später ohne Rücksicht auf die Basis zurück.“ Eine „echte Katastrophe“, findet Doth. Enttäuscht ist er über das Kieler Weichei. „Der hat eindeutig zu wenig von dem, was Schröder zuviel hat.“ Ein Einpeitscher à la Wehner wäre jetzt gut, aber bitte mit Ost-Sinn: „Gerhard Schröder ist ein typischer Wessi. Der und Rot-Grün! Ich sehe nur U-Boot-Skandale, den Werften fällt er in den Rücken und den Gewerkschaften auch, wie bei VW.“

Doths Favorit ist Rudolf Scharping. Weil Rheinland-Pfalz Partnerland ist von Thüringen. Vor allem aber, weil Scharping sich kümmert um die Ost-Genossen: „Der ist zum Landesparteitag nach Erfurt gekommen. Das hat der Schröder wohl nicht nötig.“ Solche Arroganz schätzt man gar nicht in den Niederungen. Außerdem mag Scharping Thüringens SPD-Spitzenkandidaten Gerd Schuchardt. Der gilt bei der Basis als ehrlich und integer, wer so einen stützt, kann, selbst als Wessi, nicht wirklich schlecht sein.

Längst ist die Eisenacher SPD nicht mehr stolz darauf, der dritte Ortsverband der neuen Länder gewesen zu sein, der der West-SPD beigetreten ist. Viel lieber und mit leuchtenden Augen erinnert sich Levknecht an die Gründungsphase. An damals, den 6. Dezember 1989, als er und 15 andere Eisenacher im Jugendclubhaus Arthur Becker höchst konspirativ und mit flatternden Mägen die SDP-Filiale Eisenach gründeten. An die Aufbruchstimmung denkt er, die hitzigen Diskussionen im Klubheim „Schöne Aussichten“, wo sie sich die Köpfe heißredeten. An jene ergreifende Szene, als ein alter Mann aufstand, ein uraltes SPD-Parteibuch von 1946 hochhob und schüchtern fragte, ob das noch gilt. „Wir haben stundenlang um das schwedische Modell des Sozialismus gestritten“, erzählt Levknecht. Der 35jährige mit dem grauen Vollbart hatte eine Schlüsselposition in der Gründungsphase: Als Kneipier besaß er einen Versammlungsraum. Heute ist er einziger hauptamtlicher SPDler im Kreis, hat Frau und drei Kinder und keinen einzigen freien Abend die Woche. Auch der schwedische Sozialismus muß hintanstehen, ihn beschäftigen das Kinderfest, der Rotlichtbezirk, die Trägerschaft des Gymnasiums.

Das Motto der ursprünglichen SDP-Gründer um Markus Meckel, Ibrahim Böhme und Martin Gutzeit wurde an der Wartburg schnell begraben. „Unsere Armut ist der Reichtum“ hatten sie formuliert und: „Wir werden nicht werden wie unsere große Schwester im Westen.“ Die SDP Eisenach sah das anders, besonders die Sache mit arm und reich. Während die Landes-SDP bis zum Sommer 1990 aushielt, trat die SDP Eisenach in einem Akt vorauseilenden Gehorsams eine Woche nach ihrer Gründung der SPD bei, weil sie schon bestehende Westkontakte nutzen wollte. Und wirklich, die Unterstützung kam prompt: Aus dem 80 Kilometer entfernten Marburg eilten die Sozis herbei, mit Säcken voller Werbematerial, Stiften, Ansteckern und – mit einem Kopierer.

Doch gegen den Bananenfeldzug der CDU konnte die SPD nicht ankopieren. „Wir hatten das Rennen schon so gut wie gewonnen“, berichtet Ludwig Seebach vom Wahlkampf aus dem benachbarten Moosbach. „Doch dann riefen die CDU-Blockflöten ihre Partnerstadt in Baden-Württemberg. Die kamen, mit Wäschekörben voller Bananen.“ Selbst SPD-Aktivisten seien damals abgesprungen, weil sie sich mit ihren Fähnchen wie Bettler vorkamen.

72 Jahre alt ist Seebach und gehört zur aussterbenden Art „gestandener Sozis“. Mit acht Jahren übte er als Arbeitersportler „Freiheit“ den Klassenkampf gegen die bürgerlichen Turner von „Gutheil“, noch heute kann er den Geist von Weimar schildern und einen Zustand namens Solidarität. „Nach dem Krieg ist das nie mehr aufgekommen, da hatten alle mit Überleben zu tun.“

Für die neuen Sozialdemokraten Eisenachs hat der Ruf von einst nur noch PR-Wert. Fällt das Wort Tradition, so meint man die eigene, vierjährige. „Wir nutzen die sozialdemokratische Geschichte vor allem propagandistisch“, sagt Robert Miksch und verweist auf die SPD-Geschäftsstelle „Goldener Löwe.“ „Hier hat August Bebel 1869 die Arbeiterpartei gegründet.“ In den oberen Räumen ist ihm zu Ehren eine Ausstellung aufgebaut, im Foyer hängen Karikaturen von Willy Brandt.

Unten hockt Miksch, der Arzt. Seit 1991 ist er SPD-Mitglied. „Wegen Willy und weil man mitbestimmen muß, um nicht fremdbestimmt zu werden.“ Noch nie zuvor habe er einer Partei angehört, doch die SPD sei glaubwürdig. Eine Strategie von Levknecht, die aufgeht: „Jeder muß ein knallhartes Aufnahmegespräch absolvieren.“ Zu dritt wird der Bewerber ins Kreuzverhör genommen, um eine eventuelle SED- oder Stasi-Vergangenheit auszuschließen. Nur wenn sich ein SED-Mitglied ernsthaft reuig zeigt, darf er ein Jahr Plakate kleben, die Scheißarbeit machen, bevor er die Absolution erhält.

So ist die Zusammensetzung der dreißig Ortsverbandsmitglieder Nord, die sich im düsteren Hinterzimmer einer Wirtschaft treffen, sehr gemischt: arbeitslose Chemiker, Finanzberater, Beamte, Volljuristen, Arbeiter des Stadtbauhofs finden sich ein, die meisten zwischen 30 und 40 Jahren. Und Thomas Erdmann, ein neues Mitglied. „Ich bin einer der beiden Nissan-Autohändler“, stellt er sich vor. Und wird aufgenommen: „Für uns gibt's ab heute nur noch einen Nissan-Händler“, sagt Doth.

Einmal monatlich trifft sich der Ortsverein zum Politikmachen. Der SPD-Grundkonsens: Moral und Integrität. Was in Wahrheit recht wenig ist gegen die Macht alter Seilschaften, die sich in der Ost- CDU Posten und Einfluß zuschieben. Zumal die SPD Eisenach es versäumt hat, ein eigenes Profil zu entwickeln. „Die große Koalition ist glasklarer Wählerwille. Alle demokratischen Kräfte sollen daran teilhaben, Eisenach zur Boomtown Ost, zur Vorzeigestadt Thüringens aufzubauen“, fabuliert Jens Hartlepp ganz so, wie das die Großen in Talk-Shows zu tun pflegen. Der Vorsitzende des Ortsverbands Nord will das politische Bündnis am liebsten erhalten, das einem Gemischtwarenhandel gleicht: CDU, SPD, Neues Forum, Demokratischer Aufbruch und ein Vertreter einer Bürgerinitiative. Denn Hartlepp ist Angestellter im Baudezernat. Politischer Ärger bedeutet für ihn Nerv am Arbeitsplatz.

Und außerdem hatte man gemeinsam die Zukunft Eisenachs so schön im Griff: Die Wartburg- Werke wurden an Opel verkauft, BMW und Bosch geholt und der Tourismus vermehrt zum Nationaldenkmal Wartburg. Zwar sind schon 6.000 der ursprünglich 50.000 Bürger in den Westen abgewandert, und die Arbeitslosenquote liegt immer noch bei 18 Prozent, doch: „Heute stehen mehr Kräne in Eisenach als früher in ganz Thüringen“, sagt Hartlepp. Aber kein Bagger kann den Streit im Rathaus geradebügeln: Der Erste Bürgermeister Hans-Peter Brodhun, CDU, hat seinen Stellvertreter und Baudezernenten Mathias Doth beurlaubt. Unregelmäßigkeiten im Bauressort werden ihm vorgeworfen, und ein zerstörtes Vertrauensverhältnis. Ruckzuck wurde Doth der Rathausschlüssel entzogen, fortan blieb er ausgesperrt.

Was unrecht ist, den Baureferenten Doth kann Brodhun entlassen, nicht aber den politischen Beamten Doth. Doch die Gerichtsmühlen mahlen langsam, ein Präzedenzfall sei das, und das dauert. Seit 1. April ist Doth urlaubsreif, die Koalition ist mittlerweile ob des Affronts gebrochen. Nicht jedoch, ohne daß die Basis Doth kräftig auf die Finger geschaut hätte. Immer und immer wieder mußte der SPD-Chef seine Fehler im Baudezernat und deren Folgen offenlegen, immer wieder erzählen, wie es zur Absetzung kam, wieder und wieder erklären, warum er sich das habe gefallen lassen. Viele Wortmeldungen und Geschäftsordnungsfingerzeichen später war man sich einig: „Ein richtiger Putsch war das, gerade so, als hätte Lenin seine Mitkonkurrenten ausgeschaltet.“ Fest steht, Doth trifft keine Schuld, die Aktion soll den Wahlkampf einläuten. Nur Dieter Heß, der als ABM- Kraft auf dem Stadtbauhof arbeitet, traut dem Unfrieden nicht: „Wo lebt ihr denn? Das ist immer noch eine Klassengesellschaft. Habt ihr denn alles vergessen? Wenn ich heute auf der Arbeit sage, daß ich in der SPD bin, fliege ich gleich raus. Das ist schon wieder das gleiche in Grün.“