Nicht mit heißen Füßen denken

Laudatio für Peter Sloterdijk anläßlich der Verleihung des Ernst-Robert-Curtius-Preises für Essayistik  ■ Von Antje Vollmer

I

Meine Damen und Herren,

es mag ein bißchen kühn kombiniert sein und auch zu falschen Assoziationen verleiten, daß mir zu dem Jahr 1983 drei Ereignisse in Erinnerung sind, die auf sehr unterschiedliche Weise jedes für sich einen Einschnitt markieren. 1983 begann mit der Regierung Helmut Kohl die konservative Wende. 1983 zogen die Grünen zum ersten Mal in den Bundestag ein, und 1983 veröffentlichte ein junger – ein sehr junger! – und dazu noch völlig unbekannter Philosoph ein fast tausend Seiten umfassendes Buch, das großes Aufsehen erregte– was einer kleinen Sensation gleichkam, denn Philosophen waren damals schon out of time, und die Vorlieben der Zeitgenossen hatten sich gerade von theoretischen Abhandlungen abgewandt.

Das Buch hieß – keineswegs bescheiden, aber programmatisch – „Kritik der zynischen Vernunft“, sein Autor Peter Sloterdijk. Ist es Zufall, daß sich solche Ereignisse gleichzeitig im Gewebe der Erinnerung melden? Was verbindet sie, wenn es nicht nur eine reine Jahreszahl ist? Drei Ereignisse aus drei unterschiedlichen Milieus, die sich nur zufällig in der gleichen Gegend der Erde zugetragen haben, haben sie überhaupt etwas, das „gemeinsam“ genannt zu werden verdient? Und wenn ja, was könnte dieses Verbindende sein? Offensichtlich muß es zu tun haben mit dem Moment einer Zäsur, einer Krise im Bestehenden, dem Abschied von einem politischen oder philosophischen Weiter-so. Offensichtlich reagierten sie alle – wenn auch charakteristisch unterschieden – darauf, daß eine bestimmte öffentliche Übereinkunft der Deutung der Welt und ihrer Handhabung an einen kritischen Punkt gekommen war. Auf eine Krise, sei es nun eine politische, eine existentielle oder eine intellektuelle, kann man auf verschiedene Weise reagieren. Man kann einen alten Weg verlassen und einen neuen suchen, man kann flüchten oder sich radikalisieren, man kann auf frühere Lösungsmuster zurückgreifen und hoffen, damit durchzukommen, man kann sich überfluten lassen von dem Gefühl der Ohnmacht und handlungsunfähig werden. Man kann der Krise auf den Grund gehen und daran erwachsen werden. Peter Sloterdijk schrieb damals: „Der heftige antirationalistische Impuls in den Ländern des Westens reagiert auf den geistigen Zustand, in dem alles Denken Strategie geworden ist; er bekundet einen Ekel vor einer bestimmten Form der Selbsterhaltung ... Ich habe beim Schreiben an Leser gedacht, mir Leser gewünscht, die so empfinden. Ihnen könnte das Buch, meine ich, etwas zu sagen haben.“ Der Zeitpunkt war richtig gewählt. Es gab genug Menschen, die auf die neue Musik hören wollten. Der Zauberbaum der Philosophie fing noch einmal an zu blühen.

Zehn Jahre ist das nun her. Zehn Jahre später hat die konservative Wende, wenn nicht alles täuscht, bereits die SPD erreicht. Zehn Jahre später sind die Grünen– fürs erste – aus dem deutschen Bundestag verschwunden. Zehn Jahre später hat eine Debatte über einen Gesang von Botho Strauß die Gemüter erhitzt. Zehn Jahre später hat Peter Sloterdijk sein neuestes Buch „Weltfremdheit“ geschrieben. Zehn Jahre später muß es seine Gründe haben, daß Sie, die Veranstalter, nicht Helmut Kohl, sondern mich gebeten haben, die Laudatio für den Autor zu halten, was eine Ehre ist – und ein Vergnügen.

II

Zwei Begebenheiten der vergnüglichen Art will ich erzählen, um Ihnen den Philosophen zu rühmen, den wir heute ehren. Die erste begab sich im Jahre 1988. In München fand in einer alten Fabrik, die zum Kulturzentrum umgebaut war, eine Debatte zum Thema „Forever young – die 68er-Bewegung“ statt. Ich saß neben Peter Sloterdijk, Astrid Proll und Rainer Langhans auf dem Podium. Wir mühten uns durch die Mischung aus Nostalgie, Rauch, Desinteresse und Aggressivität, die uns Oldies entgegenschlug. Ein ganz kluger und äußerst redegewandter Debattenredner hatte gerade die Welt und unsere diversen Verstöße gegen ideologische Richtigkeiten messerscharf und mit heiserer Stimme analysiert, als Sloterdijk ihn in aller Seelenruhe unterbrach und nicht anderes sagte als: „Du denkst zu heiß, das konnte ich 68 immer nicht leiden.“ Was er damit zurückwies, hat er in einer Passage aus der „Kritik der zynischen Vernunft“ (S. 9) so ausgedrückt: „Der Wettlauf zwischen dem zynisch-defensiven Bewußtsein der alten Machtträger und dem utopisch-offensiven der neuen schuf das politisch-moralische Drama des 20. Jahrhunderts. Im Rennen um das härteste Bewußtsein von den harten Tatsachen schulten sich Teufel und Beelzebub aneinander. Aus der Konkurrenz der Bewußtseine entstand das für die Gegenwart charakteristische Zwielicht – die gegenseitige Ausspähung der Ideologien, die Assimilation der Gegensätze, die Modernisierung des Betrugs –, kurzum jene den Philosophen ins Leere schickende Lage, in der Lügner Lügner Lügner nennen.“

Die zweite Begebenheit spielte in einem Fernsehstudio bei einem der Baden-Badener Dispute, einer Diskussion unter Intellektuellen im Salon des alten Europa. Es sollte gerade losgehen, die Spots waren schon auf den Kreis der Teilnehmer gerichtet, da bat Peter Sloterdijk um einen Moment Geduld, zog die Schuhe aus, wechselte ohne Hast die Wollstrümpfe, die er getragen hatte, mit einem leichteren Paar Baumwollsocken, die er aus der Jackentasche zog, und erklärte mit dem liebenswertesten Lächeln der Welt: „Wissen Sie, es gibt nichts Schlimmeres, als mit heißen Füßen zu denken.“

Abgesehen davon, daß diese Geschichte leicht die Zuneigung unseres Philosophen zu Diogenes, dem Urphilosophen der Kyniker, belegt, jenes berühmten Tonnenbewohners, der mit der Lampe „Menschen suchte“ – sie erklärt uns auch einiges über die Philosophie und die Denkschule des Peter Sloterdijk: Es ist ein Denken mit kühlem Kopf, unhitziger, aber äußerst bildhafter Sprache, seine Berührung der Welt passiert nicht mit heißen Sohlen. Vielleicht ahnen wir jetzt schon, warum ihn die Studenten ein bißchen fürchten und ziemlich lieben – was beides selten genug vorkommt unter heutigen Professoren in Deutschland.

III

Wie alle heiteren Menschen ist Peter Sloterdijk ein tiefer Melancholiker, den nichts so in den Bann zieht wie die unheimlichen Schattenwelten der menschlichen Existenz: die Wüsten, der Rausch, die Droge, der Todesappetit, die Weltflucht, die Mystik, das Nirwana, das Dämmerlicht der Eule der Minerva. Getreu seiner Parole „Die Begeisterungen haben die Welt bisher nur verschieden überflogen, es kommt darauf an, zur Welt zu kommen“ („Weltfremdheit“, S. 47) kommt Peter Sloterdijk zur Welt, aber er weiß besser als andere: Diese Welt braucht eine Philosophie, „die sich darauf versteht, im Dunkeln zu singen“ (162). Seit Heidegger und Nietzsche gibt es kaum einen Philosophen, der die „doppelte Staatsbürgerschaft“ des Seins wie des Nicht-Seins so ernst genommen hat als Grundbedingung menschlicher Existenz. Dabei weiß er: „Diese schwarzen Reflexionen schweifen aus in das unheimliche Grenzland zwischen Theorie und Magie, wo das Reden über Tod und Leben in ein Reden auf Leben und Tod übergehen kann.“ (162) Es ist keine Leichtfertigkeit, die ihn in diese Seinsgegend der Todesnähe und der Weltabgewandtheit führt – es ist die Erkenntnis, daß der Mensch der Moderne an der nackten Diesseitigkeit der Welt, die der Fall ist, zugrunde geht. „Der Satz ,Ich bin da‘– er mag explizit oder verdeckt geäußert werden – nimmt einen drohenden Ton an ... Das vereinzelte In-der-Welt-Sein wird wild und führt seine Wildheit vor – Existenz und Moral treten auseinander, der Wille zum Gutsein erscheint dem wilden Selbst wie eine schale Maske, eine ekelhafte Gemütlichkeit. Durch den Mund zahlloser Individuen verkündet das Dasein: ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit; ich bin kein Staatsbürger, ich bin Müll; ich bin kein Subjekt, ich bin eine begehrende Maschine; ich habe keine Mitmenschen, ich bin ein Meteor.“ (284)

Da retten keine mythischen Traditionen mehr und keine Religionen, um aus solchem Verzweiflungsstolz zur Gutheißung des Daseins zu kommen. „Gegen die Überwältigung durch das Weltlose hilft nur die Inspiration durch den Glanz der Welt ... Wer zur Welt gekommen ist, hat durch diesen Akt angedeutet, daß er oder sie es darauf ankommen lassen wollte, die Droge des perfekten Nichts gegen die Ersatzdrogen des Daseins einzutauschen.“ (158)

„Wenn einmal die dunkel gekleideten Bademeister, die zwischen den Schlafwannen hin und her gehen, gegen Morgen, oder wann sonst es ihrer Willkür gefällt, den Stöpsel herausziehen und das Schlafwasser ablaufen lassen, gibt es kein Zurück mehr.“ (328) „Die Welt, sie wird doch wiederkommen – wie ein alter Stern und ein neues Versprechen; sie wird kommen als eine junge, unberührte, nie dagewesene, zusammen mit bekannter und wiedergefundener, und beide Male wird das erfahrene Herz sagen, so ist sie immer, ich kenne sie, sie war doch die erste, die mich berührt hat. Wie sollte ich mit ihr nicht die Affäre meines Lebens haben?“ (333)

IV

Etwas ist in der Welt, das ist stark wie der Tod, das erzählt dem Menschen ständig von Verwandlung und Übergang. Demnach ist der Mensch das Tier, das ständig zum Elementwechsel bereit ist. „Ich möchte am liebsten weg sein – und bleibe am liebsten hier“ – so singt Wolf Biermann in einem seiner schönsten Lieder. Peter Sloterdijk hat gegen diese mächtiger werdende Tendenz den Kriton aus dem berühmten Platon-Dialog entdeckt und auf Posten geschickt, jenen Narren unter den klugen Schülern des Sokrates, der bis zuletzt gegenüber den todesbereiten, hinübergehenden Tendenzen des Meisters das Diesseits verteidigt. Kriton, der für dumm Erklärte, ist der Philosoph des Überlebens, der der Grundtendenz der Moderne zur Beschleunigung und der Totalmobilmachung in den Untergangssog hinein mit dem schlichten Satz entgegentritt: „Also beeile dich nicht so, es hat noch Zeit.“ Vielleicht besteht das Grundanliegen aller Bücher Sloterdijks, vom Protest gegen den Zynismus – das aufgeklärte falsche Bewußtsein – bis zur Untersuchung der Selbstzerstörungstendenzen der Moderne, nur im Starkmachen dieses einen Satzes, den er tapfer dem todesbereiten Sokrates wie der ganzen pressure group der Abkürzer und Drängler der modernen Zivilisation entgegenhält: „Also beeile dich nicht so, es hat noch Zeit.“

V

Manchmal muß man sich doch beeilen. Werner Heisenberg hatte einmal zu dem jungen Carl Friedrich von Weizsäcker, der nichts anderes werden wollte als ein Philosoph, gesagt, vor dem fünfzigsten Lebensjahr habe das gar keinen Sinn, bis dahin solle er noch etwas Ordentliches studieren. Er wurde also Physiker, arbeitete mit in der Gruppe deutscher Atomphysiker, die nahe dran war, für Hitler die Atombombe herzustellen. Philosoph wurde Weizsäcker dann doch noch, mit fünfzig Jahren, und nichts hat ihn als Philosophen mehr umgetrieben als die Früchte seines „ordentlichen“ ersten Berufes. Wäre Peter Sloterdijk diesem Zeitplan gefolgt, keines seiner Bücher hielten wir heute in der Hand.

Vor wenigen Tagen habe ich diese Bücher wieder gelesen, an einem Ort auf La Palma, der 300 Meter über dem Atlantik gelegen ist, namens Parnasso, mit Terrassen voller wilder Orangenbäume und duftender Daturas. Vom Tod war viel die Rede auf dieser Insel und von der Krankheit, die das Wort „Hilfe“ im Namen trägt und auch mal eine philosophische Überlegung verdiente. Es wurde auch viel gelacht. Und wenn wir nicht den Tod weglachten und gerade nicht Peter Sloterdijk lasen, dann tranken wir Wein, aßen Kartoffeln, die mit in Butter gerösteten Salbeiblättern bestreut waren, und sahnige Avocados und meinten, es sei nun wohl an der Zeit – sozusagen aus Gründen des Minderheitenschutzes –, gemeinsam mit Ihnen, lieber Herr Sloterdijk, der vielgeschmähten Toskana-Fraktion beizutreten (der wir beide, soweit ich weiß, bisher nicht angehörten, wie ja schon der Verweis auf die Wollsocken hinreichend belegen dürfte!). Froh bin ich darüber, daß Sie sich dieses eine Mal beeilt haben und eher Philosoph wurden als branchenüblich, um uns an unsere Pflicht zu erinnern, glücklich zu sein. „Die Bewohnbarkeit der kommenden hyperkomplexen Welten ist nicht erwiesen, die Lenkbarkeit der politischen Evolutionen kaum mehr als ein frommer Wunsch. Was zeichnet sich ab? – Ein Jahrhundert der Überstunden, der Zweifel, der Massenflucht ... Die Pflicht, glücklich zu sein, gilt in Zeiten wie unseren mehr denn je ... Der wahre Realismus der Gattung besteht darin, von ihrer Intelligenz nicht weniger zu erwarten, als von ihr verlangt wird.“ So endet das Buch „Weltfremdheit“.

Wer weiß, vielleicht sind wir – trotz aller anderslautenden öffentlichen Urteile – doch die Generation, der es gelungen ist, früher erwachsen zu werden als ihre Väter. Wir werden ja sehen.