Ein Mann traut sich nicht heim

■ Innenansichten der Armut: Mahmud Dulatabadis Roman über Urbanisierung und Migration

Schon mehrere Tage und Nächte lauert der einbeinige Mochtar an den Bahngleisen, nicht weit von der Hütte, die er für seine hält. Ganz sicher ist er nicht, denn er sieht immer wieder fremde Männer ein- und austreten.

Es ist ihm unvorstellbar, daß die Frau, die diesen Männern die Türe öffnet, seine Frau sein soll. Mochtar glaubt an eine Wahnvorstellung, kann sich aber nicht entschließen, selbst an die Tür zu klopfen: würde ihn die Tochter in seinem abgerissenen Zustand überhaupt erkennen? Und was würde Chatun, seine Frau sagen, wenn er sich nun plötzlich doch von seiner Reise zurückmeldete, ohne die kleinste Münze in der Tasche? Dabei ist es noch nicht einmal zwei Jahre her, daß Mochtar gesund von zu Hause weggegangen ist. Da er den Lebensunterhalt als Schmied nicht mehr verdienen konnte, hatte er sich nach Kuwait aufgemacht, der großen Glitzermetropole ...

Weil sie von ihrem Mann kein Geld, sondern nur eine Todesnachricht erhielt, hatte Chatun sich selbst weiterhelfen müssen. Da sie nur davon träumen kann, Arbeit in einer Fabrik zu finden, muß sie froh sein, daß sie dem jungen Wanderarbeiter Marhab gefällt. Aber auch Marhab verliert seine Arbeit und sieht schließlich keine andere Möglichkeit, als nach Kuwait zu gehen. Er zögert noch, weil der Einbeinige, der da vor Chatuns Haus dahinvegetiert, ihm anvertraut, eben aus Kuwait zurückgekommen zu sein ...

Diese Parabel wird vom Altmeister der modernen iranischen Literatur, Mahmud Dulatabadi, mit schnörkelloser Schlichheit erzählt. Oberflächlich gesehen wirken seine Werke vielleicht wie Literatur aus dem 19. Jahrhundert. Im Gegensatz zu Zola oder auch zu Tolstoi ermöglicht Dulatabadi ihnen literarisches Leben aus eigener Schwerkraft heraus. So entsteht eine auch in der heutigen Literatur der Dritten Welt nicht oft erreichte Eindringlichkeit in der Darstellung derer, die schon als junge Menschen keine Perspektive mehr haben: eine Innenansicht der Armut.

Entgegen den auch im Iran offiziös betriebenen Arabisierungsbestrebungen schreibt Dulatabadi in reinem Farsi, in dem sowohl Klassizität als auch die derbe Sprache der Bauern anklingen können. Er wurde 1940 im Nordosten des Irans geboren, einer Region, deren Sozialstruktur durch die Einführung westlicher Agrartechnik und den Erdölboom vollkommen zerstört wurde. Auch sein zweiter ins Deutsche übersetzte Roman „Der leere Platz von Ssulutsch“ (Union- Verlag, Zürich 1991) handelt davon, wie die Männer die Region verlassen und die Frauen alleine zurechtkommen müssen. Dulatabadi hat in seiner Jugend selbst als Schafhirte, Feld- und Bauarbeiter, Schuhmachergeselle, Fahrradmechaniker, Druckereiarbeiter, Baumwollwäscher und Friseur gearbeitet, bis er Schriftsteller, aber auch Schauspieler in Film und Theater wurde. In der Schahzeit ist er einmal direkt von der Bühne weg verhaftet und für zwei Jahre eingekerkert worden.

Dulatabadis Werk zeigt, daß die maßlose Urbanisierung des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur das Dasein derjenigen bedroht, die in den großen Städten leben, sondern auch die noch auf gegenseitiger Achtung und Solidarität basierenden Beziehungen der Menschen in den Dörfern entwertet und schließlich untergräbt. Sabine Kebir

Mahmud Dulatabadi „Die Reise“, Union-Verlag, Zürich 1992, geb., 120 Seiten, 24 DM

Der Autor liest heute um 20 Uhr in Berlin, Haus der Kulturen der Welt (John-Foster- Dulles-Allee 10)