Radeln und Schlemmen

Eine geführte Radtour für sportliche Feinschmecker durch die nördlichen Vogesen  ■ Von Patrick Brauns

Die Departementsstraße Nr. 36b zieht sich kilometerlang, kaum merkbar ansteigend, durch ein stilles Tal, links und rechts die bewaldeten Sandsteinhügel der nördlichen Vogesen. Der Bach zu unserer Linken schlängelt sich durch die mal breite, mal schmalere sumpfige Wiese, die in voller Blüte steht. An einer flacheren Stelle des Tals ist der Bach zu einem kleinen Teich aufgestaut, der sich schon, bevor er zu sehen ist, durch eine Geräuschkulisse akustisch bemerkbar macht. Hunderte von Fröschen müssen es sein, die ihr Mittagskonzert geben. Die Straße führt weiter zwischen Wald und Wiese – und wieder Wald. Die reine Idylle. Man erwartet geradezu, daß sie durch irgend etwas gestört wird, zum Beispiel ein tieffliegendes Militärflugzeug. Aber nichts dergleichen passiert.

Die südlich von Zweibrücken und Pirmasens gelegene Kleinstadt Bitche ist der Ausgangspunkt unserer Radtour durch die nördlichen Vogesen. Von der Landschaft her gehört die Gegend eigentlich schon zum Hardt, dem nur mäßig hohen Bergland des Pfälzer Waldes. Das östliche Lothringen unterscheidet sich hier von der benachbarten Pfalz nur dadurch, daß es dünner besiedelt ist. Zwischen Straßburg und dem lothringischen Moseltal mit Metz und Nancy gibt es keine größeren Städte und nur wenige kleine. Die wenig befahrenen Landstraßen sind zum Radfahren gut geeignet.

Bitche ist vor allem eine Garnisonsstadt, und aus militärstrategischen Gründen wurde wohl auch die Bahnlinie angelegt, auf der ein paarmal am Tag ein Zug von Haguenau nach Sarreguemines fährt. Wo es einen Bahnhof gibt, da ist das „Hôtel de la Gare“ nicht weit. Vor einigen Jahren wären wir noch in einem Haus dieser Kategorie abgestiegen, das Zimmer für 80 oder 90 Francs, Halbpension ab 110 Francs pro Person. Doch die Ansprüche steigen, und der verdiente Kurzurlaub soll wieder mal den Spruch vom „Leben wie Gott in Frankreich“ bestätigen. Im Vergleich zum „Bahnhofshotel“ hört sich das „Hôtel Relais des Chateaux Forts“ schon ganz anders an. Die auf einem Felsrücken gelegene Festung mit ihren abweisenden Mauern hat man von der Aussichtsterrasse des Hotels gut im Blick.

„Radeln und Schlemmen“ heißt das Programm, das wir gebucht haben, um, unbeschwert von Gepäcklasten und organisatorischen Problemen, ein paar Tage lang gemütlich zu radeln und französisch zu essen. Der Hinweis „für sportliche Feinschmecker“ soll wohl nur sehr untrainierte Radfahrer abhalten, denn die Tagesetappen sind gerade mal 30 oder 40 Kilometer lang. Da kann man sich bei den zu erwartenden Steigungen Zeit lassen. Aber zunächst steht das „Schlemmen“ auf dem Programm. Die Menükarten der Hotel-Restaurants lesen sich wie aus einem Reiseführer für Jäger und Angler: Wildhasenterrine oder mit Schnecken gefüllte Pfannkuchen, Forelle oder Lachs, Wildschweinbraten oder Rehragout mit Waldpilzen – dazu die landesübliche Käseplatte und dann noch eine Auswahl an Desserts. Dafür kann man tagsüber ganz schön in die Pedale treten, um das wieder „abzuarbeiten“. Und die Portionen sind nicht auf „Nouvelle cuisine“-Mengen reduziert; das unterscheidet eben auch eine „Schlemmer-Tour“ von einer „Gourmet-Reise“. Die Bedienung in diesem wie auch in den anderen Restaurants spricht ohne Probleme die Sprache der jeweiligen Gäste: mit uns Deutsch, mit französischen Touristen Französisch – und mit den Einheimischen das Lothringer „Platt“, das, je weiter man nach Süden kommt, langsam ins elsässische Alemannisch übergeht.

Eine bestimmte Landschaft ein paar Tage lang radelnd auf sich wirken zu lassen ist ein guter Weg, sie näher kennenzulernen. Man fährt durch die elsässische Rheinebene oder an der Loire entlang – und sieht das Elsaß oder das Loire- Tal. Interessanter wird es aber immer dann, wenn man über Grenzen fährt – politische, landschaftliche oder sonstige. Der große französische Historiker Fernand Braudel gab in seinem Spätwerk „Frankreich. Raum und Geschichte“ Anregungen, wie man „die Vielfalt mit eigenen Augen wahrnehmen“ kann. „Achten Sie auf den Augenblick, wo die Dächer andere Formen bekommen oder aus anderen Materialien gefertigt sind oder wo die Brunnen – als typische, aber viel zu selten beachtete Zeugen – ein neues Profil erhalten. Beobachten Sie – falls vorhanden – die magischen Zeichen, die das Haus vor Schicksalsschlägen bewahren sollen: Im Elsaß findet man sie überall. – Mein Rat lautet also: Suchen Sie den Unterschied, den Kontrast, den Bruch, die Grenze.“ Für solche Beobachtungen sind die nördlichen Vogesen geradezu geschaffen, weil hier die Grenzen ganz schön durcheinandergehen.

Von weitem sieht die Geographie der Gegend einfach aus: Die Vogesen verlaufen von Norden nach Süden, nach Osten fließen die Bäche zum Rhein und nach Westen zu Saar und Mosel, rechts ist das Elsaß und links Lothringen. Aber die Fahrt auf einer relativ geraden Linie von Bitche über La- Petite-Pierre nach Phalsbourg zeigt, wie kompliziert die Welt des elsässisch-lothringischen Grenzgebiets ist. Wir fahren also von der nordöstlichen Ecke Lothringens durch einen Teil des Elsasses, in dem der Lothringer Dialekt gesprochen wird, in eine Stadt im Osten des lothringischen Departements Moselle, die sprachlich und kulturell wiederum zum Elsaß gehört. Westlich von Phalsbourg überwindet sowohl die Eisenbahn als auch der Rhein-Marne-Kanal mit einem Tunnel den hier relativ niedrigen Vogesenkamm, aber der Straßenpaß Col de Saverne, zu dessen Sicherung die gut befestigte Stadt im 17. Jahrhundert angelegt worden ist, befindet sich im Osten von ihr, zwischen Phalsbourg und Saverne. Dieses Chaos historisch zu erklären würde einige Studien erfordern – leichter ist es dagegen, es einfach beobachtend zu erfahren.

„Circulation tolérée“ steht auf dem Schild am Anfang der kleinen Forststraße, über die der vorgeschlagene Weg führt – „auf eigene Gefahr der Benutzer“. Hier zu fahren ist also nicht richtig erlaubt, aber es wird „toleriert“ – vielleicht weil ein Verbot zumindest von Radfahrern sowieso nicht respektiert würde. Auch bei solchen Details merkt man, daß man in Frankreich ist, einem Land, wo nicht alles, was nicht ausdrücklich erlaubt ist, verboten ist. Dem Hinweis entsprechend muß man mit einigem rechnen. Bäume liegen auf der Straße, gelegentlich kommen auf der Straße Autos entgegen. Bei der langen Abfahrt durch den Forêt de La Petite Pierre stört aber nur der Sand, der an manchen Stellen vom letzten Gewitter auf die Straße gespült worden ist.

Die Etappenorte La-Petite- Pierre und Phalsbourg sind beide kleine Städte, in denen sich auch die deutsch-französische Geschichte spiegelt. La-Petite-Pierre, das früher „Lützelstein“ hieß, war im 16. Jahrhundert die Residenz des Pfalzgrafen Georg Johann von Veldenz, der heute noch als „Jerry Hans“ eine populäre Figur ist. Von Bischof Drogo von Metz, einem Sohn Karls des Großen, mit einer ersten Burg gegründet, besitzt die Stadt Baudenkmäler seit dem 12. Jahrhundert, von denen zwei auch beeindruckende landesgeschichtliche Museen beherbergen. In der Ludwigskapelle ist das „Elsässische Siegelmuseum“ untergebracht, das anhand von Wappen und Siegeln die Geschichte dieser Grenz- und Übergangsregion dokumentiert. Auf den ersten Blick eine trockene Materie, die aber lebendig wird, wenn man eine Führung des Kurators des Museums mitmacht. Mit seinen fast 75 Jahren ist er ein lebendes Geschichtsbuch durch die Vergangenheit dieses zwischen Deutschland und Frankreich hin- und hergerissenen Landes. Daneben betreut er das „Museum für Heimatkunde“ mit seiner einzigartigen Sammlung von „Springerle“-Backformen, die verschiedenste religiöse und weltliche Themen illustrieren – nur die Erotica bleiben im „Giftschrank“, jedenfalls solange er dafür zuständig ist. Phalsbourg – hier ist der deutsche Name „Pfalzburg“ nicht ins Französische übersetzt, sondern nur orthographisch angepaßt worden – wurde erst 1570 von dem Pfalzgrafen „Jerry Hans“ gegründet. Aber schon nach einem Jahrhundert wurde die Stadt an Metz verkauft und unter Vauban, dem Festungsbaumeister Ludwigs XIV., mit einem schachbrettartigen Grundriß umgestaltet und zu einer starken Festung ausgebaut. Sie widerstand 1814/15 erfolgreich den Alliierten, wurde jedoch 1870 von den Preußen eingenommen, ohne dann mit Elsaß-Lothringen annektiert zu werden. Noch heute heißt der riesige quadratische Platz in der Mitte „Place d'Armes“ (Waffenplatz). An seinen Seiten wird er eingerahmt von der Kirche, dem Rathaus mit dem obligatorischen Heimatmuseum (Waffen, Uniformen und Volkskunst) und – nicht der Schule, sondern dem Hotel-Restaurant „Erckmann-Chatrian“, das ein gepflegtes Abendessen wert ist. Die in Phalsbourg geborenen Schriftsteller Emile Erckmann und Alexandre Chatrian schrieben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen einige patriotische, aber auch antimilitaristische Romane – mit großem Erfolg nach dem Krieg von 1870/71.

Es gibt Orte, die tatsächlich so sind, wie sie heißen – wie man sie sich vorstellt, wenn man ihren Namen hört. Zum Beispiel Meisenthal, unser letzter Etappenort. Es liegt in einem Tal – wie aus dem Prospekt des Fremdenverkehrsamts entsprungen. Hier gibt es wirklich mehr Meisen als anderswo in der Region. Vor allem frühmorgens sind sie eine für Städter ungewohnte Lärmbelästigung. Zum Ortsnamen passend heißt das Radfahrer-Hotel „Auberge des Mésanges“. Bis vor 25 Jahren hieß es noch lapidar „Hôtel de la Gare“. Aber dann wurde die Bahnlinie eingestellt, und auch das Hotel rentierte sich nicht mehr.

Ein Blick in die andere Richtung erklärt, warum früher in dieses idyllische Tal mit seinen wenigen kleinen Dörfern eine Eisenbahn gefahren ist: Große verlassene Fabrikgebäude zeugen von der Vergangenheit des Ortes als eines der Zentren der lothringischen Glas- und Kristallproduktion. Die Anfang des 18. Jahrhunderts gegründete Glashütte Meisenthal hatte ihre Blütezeit mit dem Jugendstil um die Jahrhundertwende, konnte aber nach 1945 gegenüber den moderneren industriellen Produktionsverfahren nicht mehr konkurrieren. Ende 1969 wurde sie stillgelegt, mit damals immerhin noch 300 Arbeitern. Erst 1983 konnte in einem früheren Fabrikgebäude ein Glasmuseum eröffnet werden, das „Musée du Verre et du Cristal“, in dem auch die verschiedenen Schleif- und Gravurtechniken vorgeführt werden. Ein interessanter Einblick in die Industriegeschichte der Region, nachdem die anderen Stationen uns schon Politik und Kultur der elsässisch-lothringischen Geschichte nahegebracht hatten.

Veranstalter: IfB-Institut für Bildungsreisen, Zur Torkel 12, 78464 Konstanz, Tel.: 07531/5802-54.

Unter dem Motto „Radeln und Schlemmen“ bietet das IfB Touren unterschiedlicher Länge an. Eine viertägige Tour (Halbpension mit viergängigem Abendmenü, Mountainbike, Gepäcktransport und Routenbeschreibungen) kostet etwa 615 DM, die anderen (zwischen zwei und acht Tagen) entsprechend weniger oder mehr.