Über die versuchende Klasse

Rede zum Empfang des Ernst-Robert-Curtius-Preises für Essayistik  ■ Von Peter Sloterdijk

Meine Damen und Herren, sollte ein Essayist bekennen, was es mit seinem Handwerk auf sich hat, was könnte er anders sagen als dies, daß es sich in erster Linie um eine Entsprechung zu einem Befund des Wirklichen handelt – eine ursprüngliche Stellungnahme zur allgegenwärtigen und unüberwindlichen Unsolidität der Welt. Der essayistische Gebrauch der Intelligenz ist eine zuerst unvermeidliche und später erst eine kultivierte Form der Kooperation mit dem Nicht-Festgestellten. In diesem Sinne wäre am Essayismus nichts, was mit einer Leistung verwechselt werden dürfte – er kommt seiner Natur nach eher einer Notwehr als einer performance gleich –, wer in ihm eine Art Erster Hilfe des Denkens erkennt, begreift von ihm wohl mehr als der Kenner, der ihn als Verfeinerung genießt. Ich glaube, es war der japanische Philosoph Nishida, der zuerst das Bild gebraucht hat von dem Schwimmer, der auf offenem Meer das Floß zusammenbaut, mit dem er das Meer bis auf weiteres befahren wird. Hier kommt vollkommen klar vor Augen, was den Fundamentalessayismus in lebensphilosophischer Perspektive markiert – Grundlosigkeit der Ausgangslage und Abwesenheit von Vorbereitung, der Ernstfall als Normalfall und die Nötigung zur Kooperation mit der Gelegenheit; für denjenigen, der sein Floß im Offenen baut, fallen Schule und Leben in eins, Übung und Ernstfall sprechen dieselbe Sprache. In-der- Welt-Sein heißt für unsereins also: ohne Zuflucht zu einem exzentrischen oder transzendenten Wissen driften auf dem reißenden Zeitstrom, – wir wissen nicht, was es heißt, im Verhältnis zum Leben trockene Kleider zu haben, die Arbeit am Floß durchnäßt das ganze Subjekt, wir sind Fundamentalsituationisten, von der Zeit Durchtränkte. Dies trennt uns von den Metaphysikern der klassischen Periode, von den Meistern und Professoren, denen es gelang, ein herrschaftliches Verhältnis zum Element zu haben – sie hatten gleichsam auf dem Trockenen gebaut und schwammen nicht selbst, sie ließen schwimmen.

Ich möchte nun, meine Damen und Herren, zwei Gründe dafür nennen, warum der Weltlauf moderner und postmoderner Zeiten dem Essayismus zunehmend stärkere Daseinsberechtigungen zuspielt, so daß mit jedem weiteren Jahrzehnt das einstige Außenseitertum in beste Innenlagen versetzt sein wird – das vormals mit dem Odium der Frivolität behaftete Genre rückt auf zur Basisform intelligenter Kommunikation in der experimentell bewegten Welt. Warum es diese gleichsam evolutionäre Konvergenz zwischen Weltgeist und Essayismus geben muß, ist verhältnismäßig einfach zu sagen – ich stelle meine Begründungen unter die beiden höchst aktuellen Merkwörter: Zeitdiagnostik und Hypertext. – Wenn sich der Essayismus von einer ursprünglichen existentiellen Verlegenheit zu einem literarischen Metier entfalten kann, dann nicht zuletzt deswegen, weil sich bei der Arbeit am Floß gewisse Erfahrungswerte einstellen, denen gesellschaftliche Bedeutungen zukommen können. Der Essayist bemerkt mit der Zeit, daß seine einsamen Experimente zu typischen Ergebnissen führen – so entwickelt er gegen sich selbst den zugleich schmeichelnden und herabsetzenden Verdacht, er möge ein Symptom von etwas Allgemeinerem sein. Wo dieser Verdacht sich konsolidiert, kann eine methodische Praxis beginnen, in deren Verlauf ein Autor sich selbst als Sonde für unklare Zustände im sozialen Raum benutzt. – In Augenblicken besonderer Luzidität weiß er von sich, daß er sich wie eine Nährlösung für thematische Bakterien verhalten sollte, die unter kontrollierten Bedingungen im auktioralen Brutkasten gezüchtet werden, bis Ergebnisse sichtbar werden. Unter idealen Bedingungen wird folgerichtig das Von-sich-selber- Reden eine Form gesellschaftlicher Aufklärung sein. Wo es an methodischer Luzidität mangelt, dort gleitet der Essayist leicht ab ins prophetische oder demagogische Register – und dergleichen geschieht zum Beispiel dann, wenn der Experimentator sich über den Reinheitsgrad seiner Nährlösung Illusionen macht. Nehmen Sie an, Sie heißen Botho Strauß und benutzen sich selbst als Reagenzglas für das Thema Nationalität – was würden Sie denken, wenn es plötzlich aus dem Kolben schäumt? In welches Verhältnis sollten Sie jetzt Gärung und Abklärung zueinander setzen? Welche Funktion könnte das Publizieren im Blick auf das weitere Prozessieren der Resultate übernehmen? Oder Sie heißen Hans Magnus Enzensberger und machen im eigenen Inneren ein eiliges, weil dringendes Experiment mit der thematischen Bakterie Gewalt – und Sie achten nicht darauf, daß hier mindestens zwölf Hauptgruppen von Erregern zu unterscheiden gewesen wären; und es entsteht auf der Glasschale in der Essayistenbrust eine dunkle Reaktionsmasse, in welcher bosnische Virulenzen und Skinhead-Effekte und Neonationalismen und U-Bahn-Vandalismus und lateinamerikanisches Desperadotum und afrikanische Hungerguerillas zu einer kontraanalytischen Verklumpung absinken – die Frage wäre da doch, wie müßte man, mit einem solchen Erstergebnis im Rücken, bei einem erneuten Versuch vorgehen, um die fast unvermeidliche Resignation des Experimentators angesichts des tristen Effekts seiner Fehl-Übung zu kompensieren?

Meine Damen und Herren, ich habe hierauf keine fertige Antwort, ich bin mir nur dessen gewiß, daß zwischen den einsamen Essayisten und Experimentatoren so etwas wie ein unsichtbares Band besteht; deswegen behaupte ich, daß es eine gemeinsame Verantwortung gibt – auch für die Essays der anderen in Erfolg und Mißerfolg, und daß wir, die versuchende Klasse, einander verbunden sind durch das Ethos einer zeitdiagnostischen Experimentiergemeinschaft. Wir schulden einander wie der Öffentlichkeit jene analytische Generosität, die an den Fehlschlägen wie den Erfolgen des Kollegen Anteil nimmt wie an einem Gemeinschaftswerk. Es gehört zu den Ironien dieses Metiers, daß man als einsamer – und warum nicht auch hochmütiger – einzelner beginnt, um im Laufe der Arbeit zu begreifen, daß wir zur Vielstimmigkeit verdammt sind – man könnte geradeheraus behaupten, daß ein Essayist, der nicht zum Ko-Essayisten sich wandelt, auch als Essayist nichts getaugt hat. Zeitdiagnostik bedeutet gefährliches Denken als Beruf – sie übt das Amt der weltdeutenden Intelligenz in einer riskanten Welt, selbst riskant und daher angewiesen auf die anhaltende Solidarität fehlbarer und fehlerfreundlicher Klugheiten. Es wäre in solcher Sicht also nicht weiter schlimm, wenn Botho Strauß einmal während eines Versuchs über das nationale Eigene in eine seherische Krise gerät, solange der Ko- Essayismus bundesweit funktionierte und solange wir im Blick auf die Notwendigkeit, seherische Ausbrüche zu zivilisieren, das Sehertum zur Kollegen-Sache machten. Auch wenn Hans Magnus Enzensberger gleichsam wie ein müder Doktor Mabuse in seinem Labor zuhause plötzlich vor einem Gewalt-Essentialismus steht, vor dem zu resignieren die einzig vernünftige Auskunft zu sein scheint, so wäre dies eine normale und unter essayierenden Freunden korrigierbare Episode, wenn wir uns nur darauf verlassen könnten, daß die Versuchenden ihre eigenen Reaktionseigenschaften beim internen Test mit gefährlichen Stoffen mit aufs Spiel setzen. Was mich angeht, so habe ich in meiner bisherigen Schriftstellerei stets versucht, meine Mitgiften an Wahnsinn zur Mitarbeit zu zwingen, – und habe dabei ein zumindest für mich selbst aufschlußreiches Experiment über apolitische Reaktionseigenschaften soweit vorangetrieben, daß eine Abklärung von Überreaktionen in den Bereich des Möglichen gekommen ist. Bücher – hat Jean Paul einmal bemerkt – sind dickere Briefe an Freunde; ich habe, wissend und unwissend, mit diesem epistolarischen Prinzip bisher hinreichend gute Erfahrungen gemacht, habe die Scheidung der Freunde und Nichtfreunde bis zu einem erfreulichen Grad der Deutlichkeit fortschreiten sehen und glaube auch jetzt noch daran, daß der deutsche Buchhandel für Leute wie mich die bessere Bundespost bleiben wird. In einem nervösen Sommer wie diesem schien mir der richtige Zeitpunkt gekommen, zwei neue Briefe loszuschicken, die ungefähr gleichzeitig zur Zustellung gelangen werden, im kommenden September nämlich – einen ziemlich umfangreichen unter dem Titel „Weltfremdheit“, in dem ich versuche, aktuellen und virtuellen Freunden zu erklären, warum homo sapiens seine weltbürgerlichen Kräfte nur entfalten kann, wenn er seiner weltfremden Verfaßtheit – jenseits von Religion und Nichtreligion – auf neue Weise inne wird; es ist gleichsam ein Großversuch zur apolitischen Anthropologie. Und einen zweiten, einen etwas engagierten und zugespitzten Brief an die Kollegen deutscher Nation, nicht zuletzt die Herren Strauß und Enzensberger, einen Brief unter dem Titel „Im selben Boot. Versuch über die Hyperpolitik“, worin ein, wie ich meine, neuer tiefenpsychologischer, besser tiefensoziologischer Diskurs über das soziale Band und über die Kunst des Zusammengehörens von Menschen in Großwelten und Großgesellschaften in Vorschlag gebracht wird – zugleich eine Stilübung zu der Aufgabe, „rede über große und größte Problemkomplexe so, daß du weder in die manische noch in die depressive Falle läufst“ – die angesprochenen Herren werden wohl am besten verstehen, was das meint.

Essayismus, meine Damen und Herren, ist derjenige öffentliche Gebrauch der Intelligenz, der nur kommunitarisch oder gar nicht gelingt, – er ist der Ernstfall für jenen Kommunismus der Aufmerksamkeit, in dem das wache, das ge

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meinschaftliche Leben von den ersten Momenten seiner evolutionären Dämmerung an situiert ist. Welt – so möchte ich hier in einer plötzlichen Verallgemeinerung bemerken – Welt gibt es für Menschwesen nur dort, wo aus dem unübersteigbaren Kommunismus der Aufmerksamkeit hinreichend kohärente Deutungen der Umstände hervorgehen, – man könnte auch sagen: Welten sind bewohnte Bedeutungen, und die Entscheidung über die Bewohnbarkeit von hermeneutischen Häusern hängt nicht zuletzt davon ab, daß die Arbeit der Versuchenden an der Erklärung der Weltform mit einer sozial und kognitiv hinreichenden Erfolgsquote weitergeht. Zeitdiagnostik wäre danach die Kunst, einem Patienten, der an vagen und unheimlichen, ja alarmierenden Symptomen leidet, solche Deutungen seines Zustandes vorzuschlagen, daß mit der Deutung selbst, so ernst sie ausfallen mag, der Gedanke an eine Kur – und wäre sie nur eine hinhaltende Behandlung – bis auf weiteres offengehalten wird.

Meine Damen und Herren, mein zweites Merkwort zur Erläuterung des positiven Zusammenhangs zwischen Essayismus und Epochenbewußtsein lautete „Hypertext“, – ich will in Kürze sagen, was es damit auf sich hat. Intellektuelle Zeitgenossen haben heute besondere Gründe, auf einen großen Strukturwandel ihrer bisherigen Arbeitsvoraussetzungen zu achten, weil sie von zwei Seiten zugleich einem Streß neuen Typs ausgesetzt sind – für den einen mag das Allerweltswort Komplexität eine ausreichende Markierung geben, für den anderen die magische Formel Neue Medien. Wo diese beiden Streßquellen konvergieren, dort entsteht ein komplexes Symptom – wir nennen es die Krise des Buches oder, etwas anspruchsvoller, die Krise der buchförmigen Rationalität. Unter dem doppelten Druck von neuen Überkomplexitäten und Neuen Medien mit künstlichen Gedächtnissen gibt sich eine avanciertere Fraktion heutiger Intellektueller Rechenschaft darüber, daß das gute alte Buch von der Entwicklung gleichsam ironisiert wird – schon vor einer Generation hatte der Medientheoretiker McLuhan von einer Abenddämmerung des Gutenbergzeitalters gesprochen. Nun ist es soweit, daß kein Avantgardismus mehr dazu gehört, um zu begreifen, was das besagen wollte – es genügt, in irgendeinem Fach halbwegs auf der Höhe zu sein, um zu realisieren, daß eine neue Ökologie der Information ihre Rechte fordert. Es ist, als ob die alten Zeilen die Zumutungen des Wissens nicht mehr fassen könnten, als ob die Seiten überlaufen müßten und als ob der Text aus seinem Einband treten und seine Anschlüsse direkt in anderen, ebenfalls fälschlich durch Einbände abgetrennten Nebentexten suchen wollte. Das Prinzip Text gründete – wie wir erst jetzt im Ernst zu begreifen beginnen – in der Begrenzbarkeit der Fäden und Gewebe; das Prinzip Buch hatte seine regulative Idee in der Vorstellung, daß in irgendeiner Tiefe – sagen wir bei Gott oder im Absoluten – eine Äquivalenz von Buchform und Weltform in Kraft sei, so daß menschliche Autoren letztlich nichts ganz Falsches tun, wenn sie ihr Wissen der Gestalt des endlichen Buches anvertrauen. Die abendländische Buchidee zehrte von einer analogia entis, sie baute auf die Kraft der wie auch immer indirekten Gleichung zwischen sterblichen Autoren und einem bibliophilen, ja vielleicht sogar bibliomorphen Gott. Solange das Absolute sich für eine Selbstdarstellung in einem so schlichten Gebilde wie einer Bibel nicht zu schade war, – solange durften auch wir uns ernsthaft fragen: Wer sind wir denn, daß Bücher für unsere Zwecke nicht ebenfalls gut taugen sollten? Heute steht es um den Kinderglauben an die weltbeschwörende Macht des aus einfachen Zeilen gewobenen Buches schlecht; auch der verwandte Kinderglaube an Geschichten leidet von der neueren Aufklärung über erhöhte Komplexitäten Schaden; ja sogar was wir singularisch bedeutsam Geschichte nennen – war es nicht der fernste Reflex des Prinzips der Zeile, jenes wunderbaren Arrangements von Zeichen, die nicht anders können und nicht anders sollen als in wohlgeordnetem Nacheinander aufeinander zu folgen, bis ans Ende aller Zeilen und Zeiten? Die Welt ist alles, worauf am Ende ein Punkt folgen könnte – so lautete im Zeitalter der Satzmetaphysik das heimliche Axiom für die Formulierung von Weltformen oder Systemen. Und nun bricht mit der Entdeckung des Hypertextes die Katastrophe der Buchförmigkeit über uns herein – Linearität erweist sich als ein zu schwaches Organisationsprinzip, um der neuen Weltform des verzweigten und verknäuelten Wissens gewachsen zu sein, sie muß bekennen, daß sie nur noch eine provisorische Konvention unter endlichen, allzu endlichen Intelligenzen ist, und daß die Zeiten vorbei sind, in denen das portugiesische Sprichwort plausibel war: Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen. Das Prinzip Zeile insgesamt wird abgelöst vom Prinzip Knoten oder Schnittpunkt, jedes Wort könnte Ausgangspunkt sein zu einem Sprung in ein anderes Archiv, jeder Satz könnte gleichsam in mehreren Richtungen weitergehen, der Text wird vom zweidimensionalen Gewebe zum dreidimensionalen Verweisungsknäuel, das Anschließen von Sätzen an Vorgänger wird zum Schicksalsspiel, und das arme alte Buch seufzt unter den Spannungen einer Polyvalenz, zu deren Behergung es anfangs nicht geschaffen war.

Meine Damen und Herren, wir sehen hier deutlich, wie im Zeitalter der Hyperkomplexität der Begriff Essay über sich hinausgetrieben wird; er meint nicht mehr das alte kavaliersmäßige Verhältnis zum Argument, nicht mehr nur den alten Vorrang der Eleganz vor der Beweislast, sondern wächst heran zu einem regulativen Prinzip in einer Situation, wo es gilt, überverdichtete Informationssysteme auf eine für natürliche Prozessoren, das heißt bürgerliche Leser, faßbare Darstellungsebene zu projizieren; Überverdichtung ist ein Wort, das anzeigt, daß Schreiben vor allem anderen Selektion bedeutet, und daß Selektion ein Entscheidungsverfahren ist, um indeterminierte Textprozesse in endlicher Zeit lesbar zu machen. Das haben lange vor den Computer- Spezialisten jene Essayisten der Moderne erprobt, die das Überquellen des Buches im Buch selbst zu simulieren begannen – ihnen gingen voraus nur die Talmudisten und Biblizisten, in deren uferloser Kommentartätigkeit zuerst die Idee des unendlichen Buches aufgegangen war; mit dem Prinzip des entgrenzten Buches ist das Abenteuer moderner Literatur so tief verknüpft, daß man nicht zu sagen wüßte, was denn ein moderner Text sei, wenn nicht ein solcher, in dem die Zeilen und Seiten mit den Grenzen ihrer eigenen Darstellungskraft zu spielen begonnen haben; man denke an Walter Benjamins Passagenwerk, an Wittgensteins Zettelbücher, an Paul Valérys Konstruktion von mehrdimensionalen Aphorismen-Universen, an Jorge Luis Borges' Metadichtungen, in denen die Bibliothek zum Ort buchüberschreitender Operationen wird – und sie alle wiederum sind Autoren, die im Erbe des romantischen Experimentalismus stehen, Nachfahren der großen Digressionisten vom Typus Sterne und der Inkonsequenzialisten vom Typus Heine und Nietzsche. Meine Damen und Herren, diesen Pionieren des Hypertextes tut es die Schreibweise heutiger Essayisten nolens volens nach, ob dies nun noch die Prämien der Originalität für sich besitzt oder nicht. Der anwesende Autor hat im Vierten Teil seiner „Kritik der zynischen Vernunft“ den Versuch vorgelegt, eine Epoche deutscher Geschichte und deutscher Wahnsysteme als Zitaten-Labor zu montieren und die Weimarer Republik wie ein Lachkabinett aus selbstverräterischen Textstücken in nicht resümeefähiger Komplexität begehbar zu machen. Im Hypertext wird der Autor zum Navigator, der seitliche Suchbewegungen mit der Arbeit an der fortlaufenden These zum Ausgleich zu bringen versucht, – und was früher die Fußnote war, wird jetzt zum selbständig nutzbaren Fahrzeug in eine Nebenwelt der mitwißbaren Parallelinformation. Aus dem Buch wird der Knotenpunkt im bibliographischen Archipel, aus der Zeile das multidimensionale Informationenknäuel, aus der Fußnote die Fernreise und aus dem Titel eines Textes wird die tollkühne, ja prophetische Ankündigung eines Zusammenhangs, von dem verheißen wird, daß er trotz allem sich irgendwie noch bemerkbar machen wird. Und was wird aus dem Schreiben in der Zeit danach? Was wird aus dem Autor, jenem numinosen Ebenbild des großen Weltbuchmachers, dessen zwei Hauptwerke als ein evangelium naturale und als ein evangelium supranaturale all denen vor Augen lagen, die es gelernt hatten, das zu tun, was die Tradition als lesen bezeichnete? Autoren werden sich nützlich machen als Lotsen im Ozean der wißbaren und zusammenstellbaren Dinge, als scouts in der informatisierten Welt, als Navigationsberater für Menschen, die Erfahrung suchen als Infonauten und Dokunauten und als Trainer für Verkehrsfähigkeit in einer Welt, mit deren Größe und Abenteuerlichkeit noch immer kaum jemand ernsthaft rechnet.

Dies alles, meine Damen und Herren, läuft darauf hinaus, die Unentbehrlichkeit der Literatur auf eine neue Weise zu behaupten, – denn was ist Literatur anderes als eine Fahrschule für Intelligenz in einer Welt, deren Verkehrsregeln zwischen den Verkehrsteilnehmern erst beim Fahren ermittelt werden? Ich stelle fest, ich bin nahe daran, eine Laudatio auf ungeborene Essayisten zu beginnen, und unterbreche.