■ Militärgewalt und Verfassung
: Jenseits der Grauzonen

„Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen!“ Die Einsicht, daß „Nie wieder!“- Schwüre selten halten, was sie versprechen, provozierte den Spott des Kabarettisten Wolfgang Neuss. Er galt einem deutschen Nachkriegsimperativ, der noch in den achtziger Jahren, zur Hochzeit der Friedensbewegung, mit pathetischem Ernst vorgetragen wurde. Schon die Väter und Mütter des Grundgesetzes können dem ewigen Frieden nicht sonderlich getraut haben. Warum sonst hätten sie in der Verfassung den apodiktischen Satz verankern sollen: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden“ (Art. 4 Abs. 3)? Ein sehr weitsichtiges Grundrecht für ein Land ohne Armee, wie sich bald zeigen sollte.

1956 erfuhr das „Nie wieder!“ im Verfassungsstreit um den „Wehrbeitrag“ eine rabiate Relativierung – gegen die Stimmen der SPD-Bundestagsfraktion, die mangels Sperrminorität Artikel 87 a nicht verhindern konnte: Der Bund stellt fortan „Streitkräfte zur Verteidigung“ auf; als deren Ernstfall wurde – was sonst? – der Frieden ausgerufen. Dabei wissen alle, daß die originäre Aufgabe von Soldaten das Kämpfen, also Töten und Sterben ist.

Verteidigung oder Intervention?

Der aktuelle Verfassungsstreit um den internationalen „Wehrbeitrag“ der nunmehr gesamtdeutschen Armee dreht sich seit geraumer Zeit im Kreise. Hier die pazifistisch getönte Warnung vor militärischen Abenteuern, gestützt auf Art. 87 a Abs. 2 der Notstandsverfassung von 1968, der lautet: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zuläßt.“ Dort die forsche Propagierung einer im Rahmen der UNO frei verfügbaren Interventionsarmee unter Berufung auf Art. 24 Abs. 2 des Jahres 1949: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen...“

Im Kern wird der Rechtsstreit um die Frage geführt, ob sich das Verbot des Art. 87 a Abs. 2 nur auf den inneren Notstandseinsatz der Bundeswehr bezieht oder auf schlechthin jeden Einsatz, also auch im Ausland. Politisch gefragt: reine Verteidigungs- oder auch Interventionsarmee? Bloße, womöglich hauchdünne Regierungsmehrheit oder Beteiligung der Opposition? So läßt sich der schwelende Konflikt um die Verfassungsinterpretation entschlüsseln.

Klar sind nur die Eckdaten des Grundgesetzes: der Auftrag zur Landesverteidigung (Art. 87 a Abs. 1) sowie das Verbot des Angriffskrieges (Art. 26). In der Grauzone dazwischen ist so gut wie alles umstritten. Eine nicht am Ergebnis orientierte Verfassungsinterpretation wird daher am Ende einräumen, daß das Grundgesetz keine klaren Regelungen für die grundstürzend neuen Fragen enthält, die sich seit 1989 stellen. Aus diesem verfassungsrechtlichen non liquet folgt die politische Notwendigkeit, die deutsche Außen- und Militärpolitik neu zu diskutieren und in präzises Verfassungsrecht umzusetzen. Anderenfalls wird das Bundesverfassungsgericht das derzeit geltende Grundgesetz strapazieren müssen – und gleichsam „out of area“ Richterrecht setzen. Das kann nur jenen Lehnstuhlstrategen der Union recht sein, die darauf spekulieren, in Karlsruhe Terrain für ihren militärischen Dilettantismus zu gewinnen.

Zweidrittelquorum

Wer die unauflösbare Ambivalenz jeder Militäraktion realistisch veranschlagt, wird um so größeres Gewicht auf ein rationales öffentliches Verfahren legen, in dem über solche stets fragwürdig bleibenden Interventionen diskutiert und schließlich entschieden werden kann. Bevor nicht das Wie, der verfassungsrechtliche Modus geklärt ist, wird jede Debatte über Bosnien oder Somalia von hinten aufgezäumt. Wer also soll nach welchen Regeln entscheiden?

In Demokratien ist das Parlament das Forum von Rede und Gegenrede, wo grundlegende Richtungsentscheidungen fallen. Eine „parlamentarisch verantwortliche“, also stets abwählbare Regierung wird jeden Einsatz militärischer Gewalt sorgfältig überlegen. Und, statt die übliche Mehrheitsroutine zu praktizieren, klugerweise versuchen, die Opposition einzubeziehen.

Ungeachtet dessen ist die hierzulande diskutierte Zweidrittelmehrheit international nicht üblich. Es gibt freilich nationalgeschichtliche Gründe, den die Landesverteidigung überschreitenden Einsatz deutscher Soldaten an die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit zu binden – sofern Interventionen überhaupt in Betracht kommen. Ein Land, das in diesem Jahrhundert zwei Weltkriege anzettelte und generell auf keine seriöse militärische Tradition zurückblicken kann, hat allen Grund, mit dem Einsatz von Soldaten außerordentlich vorsichtig zu sein. In der Tat engt das höhere Quorum den Handlungsspielraum der Regierung ein. Gerade der Zwang aber, wenigstens einen Teil der Opposition mit Gründen überzeugen zu müssen, soll und kann sich mäßigend auf die Handhabung der Militärgewalt auswirken.

Die SPD favorisiert derzeit neben dem prozedural angelegten Zweidrittelquorum die inhaltiche Beschränkung auf Blauhelm-Einsätze der UNO (noch 1990 wurden selbst diese abgelehnt). Es zeichnet sich jedoch ab, daß diese Verteidigungslinie politisch nicht zu halten ist. Vorab formulierte inhaltliche Bindungen taugen ohnehin praktisch wenig, da die Abgrenzung im einzelnen stets kontrovers bleiben wird. Folglich würde das Verfassungsgericht stets aufs neue in die Rolle des militärischen Oberkommandos gedrängt. UNO-Beschlüsse sind außerdem keinerlei Garantie für die Richtigkeit militärischer Einsätze: diese müssen ungeachtet internationaler Koalitionen bis auf weiteres von den beteiligten Nationalstaaten verantwortet werden. Eine strikt formale Regelung, das Zweidrittelquorum, ist daher politisch klarer und wirksamer.

Notbremse Plebiszit

Wir sollten schließlich eine weitere Sicherung diskutieren – eine plebiszitäre Notbremse gegen das Machtkartell der etablierten Parteien. Aktive Minderheiten müssen imstande sein, per Volksbegehren ein Plebiszit über die Entscheidungen des Parlaments zu erzwingen. Wer mit der Möglichkeit plebiszitärer Revisionen rechnen muß, wird die Einwände außerparlamentarischer Initiativen vor jedem Einsatzbefehl stärker in Rechnung stellen: bei Strafe von Straßenprotesten, zivilem Ungehorsam und Desertionskampagnen. Die Verfassungskommission mag auch hier nichts bewegen wollen – der kränkelnde Parteienstaat wird auf Dauer um plebiszitäre Korrektive nicht herumkommen.

Nur ein komplexes Verfahren verbürgt den Primat der Politik über das Militärische. Demokratische Politik muß die Filter prozeduraler Sicherungen passieren, um im klaren Bewußtsein des Risikos, das jede Zeitgenossenschaft birgt, möglichst rationale Entscheidungen hervorzubringen. Ein Land, das durch eine riesige Militärmaschinerie von der Naziherrschaft befreit werden mußte, sollte zögern, einem abstrakten Pazifismus zu huldigen. Ein Land, das vor wenig mehr als 50 Jahren Europa mit einem totalen Krieg überzog, sollte noch mehr zögern, unter der Fahne humanitärer Ziele militärische Geländespiele zu veranstalten. Horst Meier

Jurist und Autor, lebt in Hamburg