Somnamboulevard – Zu früh oder zu spät leben? Von Micky Remann

In den ersten Tagen des virtuellen Monats Nintender, fern der kalendarischen Heimat, plauderte die Dame Lila mit diesem jungen Herrn in Bermudashorts (früher hätte man dazu „Spielhöschen“ gesagt) und Baseballcap (früher hätte man dazu „Schirmmütze“ gesagt), der ihr Verhältnis zur Zeit tiefer als alle ihre vorangegangenen Verhältnisse beeinflußte, indem er ihr die folgende Geschichte erzählte:

„Es begann damit, daß ich eines Tages aufwachte und eine unglaublich tolle Geschäftsidee hatte: Eröffnung eines Copyshops in Uninähe! Ich sah den Profit des Ladens schon deutlich vor mir, und das einzige Problem war, daß ich diese Idee vor 300.000 Jahren hatte, zu einer Zeit und in einem Leben, da ich noch als Teilzeit- Affe halbtags in den Bäumen hauste. Meine Mitprimaten und -primatinnen konnten mit der Copyshop-Sache wenig anfangen, schlimmer noch: Sie bezichtigten mich stammesfeindlicher Umtriebe und beförderten mich mit Hilfe von tropischen Harthölzern umgehend ins Jenseits.

Dort trat mir am Ende eines silbrigen Tunnels ein Engel aus Laser- und Leuchtstoffröhren entgegen und verkündete: ,Wer zu früh kommt, den belohnt der Tod!‘ Das sagte der mild lächelnde Engel und fuhr fort: ,Aber mach dir nichts draus, Alter, du bekommst ein paar inkarnative Freispiele, und ansonsten rate ich dir: üben, üben, üben!‘ Mit diesem Mantra im Seelenohr wurde ich ein ums andere Mal wiedergeboren, stets in der Hoffnung, mit meinem Copyshop den großen Durchbruch zu schaffen. Einmal als mittelalterlicher Mönch mit dem Abpinseln des Alten Testaments beschäftigt, dachte ich schon, ich hätte es geschafft. Doch mein Schwärmen von den Vorzügen eines Copyshops hielt der Abt für Visionen des Teufels, der Vorgang landete bei den örtlichen Inquisitionsbehörden – aus, wieder nichts.

Allmählich wurde meine Seele sauer, doch nach jedem Leben säuselte mein Leuchtstoffengel wieder mit froschmaulbreitem Grinsen sein ,Üben, üben, üben!‘ durchs Jenseits. ,Scheiß der Hund drauf‘, raunzte ich da, ,ab sofort trete ich in einen unbefristeten Inkarnationsstreik! Sollen sich die anderen mit dem ewigen Jo-Jo aus Leben und Sterben abrackern, ich lasse jetzt meine Seele nur noch in der astralen Hängematte baumeln. Basta!‘ Das ging ein paar Äonen gut, bis ich, quer durch den siebten Himmel gähnend, auch dessen überdrüssig wurde und mich zu einem erneuten Versuch breitschlagen ließ. Kopfüber stürzte ich mich in den nächstbesten Geburtskanal, wuchs heran, erinnerte mich meiner Geschäftsidee, kratzte alle Ersparnisse zusammen und ging zur Industrie- und Karmakammer, um endlich jenes Projekt zu eröffnen, auf das der Kosmos sei Jahrhunderttausenden gewartet hatte: Copyshop in Uninähe!

Dummerweise war mir entgangen, daß wir damals das Jahr 2004 schrieben: In Uninähe gab es, soweit das Auge sah, nichts als Copyshops, Copyshops, Copyshops. Was mir der Engel bei unserem nächsten Meeting im Silbertunnel heimgeigen wird, will ich gar nicht wissen, deshalb lasse ich mich hier als Zeitflüchtling schon mal auf ein neues Zeitverhältnis umschulen, mit ABM-Mitteln.“ – „Aha, so so“, sagte die Dame Lila.