Innere Gartenlaube

■ Kunstgriffe parat: Paul McCartney startet seine Europatour in Berlin

Er gehört nicht zu denen, die ihren Jugendbonus durch Midlifespeck drangegeben haben (wie Elvis) und auch nicht zu denen, die ihr Alter sorgsam in ihr Werk einschreiben (wie Dylan); am ehesten ist er noch vergleichbar mit dem ewig sportiven Mick Jagger, obwohl er – Paul McCartney – das Gesicht der Jugend mit ungleich mehr Erfolg bewahrt hat. Ein Junge von einundfünfzig Jahren, dem man am wenigsten abkauft, was er am besten kann: sein Imperium mit Nonchalance zu verwalten. Von Kritikern gebeutelt, von Selbstzweifel geschüttelt, hat McCartney sich mit der Naivität des Eiferers offenbart. So hat er sein ureigenes Publikum gefunden, eins, das mit Feuerzeugen, Wunderkerzen und einer Rakete zur Stelle ist, um seiner nicht existierenden Begeisterung Ausdruck zu verleihen: Gnadenlos wurden die Vier-Takt-Stücke weggeklatscht, jeder Anflug von weichem Ton war Anlaß zum Schunkeln. Die Öffentlichkeit des Rock bietet keinen Schutz mehr vor der inneren Gartenlaube, die Paare, Cliquen und Familien errichten, sobald sie sich auf den langen Holzbänken des Spielorts niedergelassen haben. Es gibt wirklich keine Romantiker mehr – eine tiefe Gleichgültigkeit ist eingezogen in die Augen, die Mundwinkel, die Körper.

Dabei existiert wohl kein Kunstgriff im weit ausgelegten Raster emotionaler Stimulation, den Paul McCartney nicht erforscht hat: die Beschleunigung, das retardierende Moment, die verdichtete Präsenz der Gruppe im „unplugged“ Set, sämtliche Modi der Beleuchtung von Jahrmarkt-um-1900 bis zahnradartig schweifendes Flutlicht. Er weiß sogar, daß man die Bereitschaft zur Hingabe mit zäherem, schwierigem und unbekannten Material strapazieren muß, um die Ernte bei der Präsentation des Populären hundertprozentig einzufahren. Mein Gott, ich muß zugeben: hätte ich nicht diesen emotionsstabilen Kollegen an meiner Seite gehabt, ich hätte mich bei der zweiten Zugabe mit „Hey Jude“ zu wer weiß was hinreißen lassen.

Es ist immer noch die nasale Stimme, die irgendwie unwiderleglich komplett wirkt, extrem flexibel ist und in aufgebrachteren Passagen ins Rauhe umbricht, die perfekte Brücke zwischen easy listening und Rock 'n' Roll. Auf vierzig Meter, ohne Fernglas, könnte Paul McCartney achtzehn sein, sein eigener Sohn. Nur die Arrangements sprechen für einen in Jahrzehnten gestapelten, gut geleimten Kompromiß: die fragilen Songs des Lennon-McCartney-Teams – mit ihrer Polarität von Avantgarde und Tralala – werden durch doppelten Einsatz von Tasten hochgefahren zu pompöser Architektur; fast alle etablierten Gruppen, die vom „Song“ her kommen und dem Zwang der traditionellen Genres (Blues, Hard Rock, südamerikanische Rhythmen) entgehen wollen, stehlen sich in den symmetrischen Sound-Container. Dennoch ist dem Beatles-Material seine enorme poetische Qualität noch anzuhören. Die Nummern vom neuen Album „Off The Ground“ werden dagegen mit viel eleganteren Arrangements zu Gehör gebracht, wenn sie auch an Substanz weniger bieten. Musikalisch nicht nur rund, sondern wirklich raffiniert sind eigentlich nur das dissonante, schleppend-jazzige „Peace In The Neighbourhood“ sowie „Biker Like An Icon“, ein dylanesk atemlos vorgetragener Sprechgesang, der in einen plärrigen Refrain umkippt.

Die fünfköpfige Begleitband (Einstellungsmindestkriterium: satte Geheimratsecken oder mittlerer Haarschwund) ist deutlich unterfordert. Ausnahme: Linda McCartney, die hohläugig, in einem höchst eigenartig blauweiß gefleckten Morgenrock, zwar bestellt ist, aber nie abgeholt wird. Ihr Beitrag an den Tasten wirkt immer noch kalt, angelernt; neun giftig illuminierte Fernsehlampen, im Halbrund vor ihrem Tastenpulk, und ihr über den Synthie gehängtes Tischtuch mit der Aufschrift „Go veggie“ („Werdet vegetarisch“), machen aus ihrem Platz rechts am Set eine Mischung von Altar und Schmollecke. Wenn sie es ernst gemeint hätten, die „animal lovers“ (McC. über McC.), hätten sie die entnervenden Berliner Würstchenstände der Waldbühne in Falafelbuden verwandeln lassen.

Zur Zugabe stürzt er auf die Bühne, eine Berlin-Flagge schwenkend: McCartney ist etwas für einfache Gemüter. Der zieht keine Irren an. Bloß niemand weh tun: Selbst die Publikumsschmähung „Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band“ jubelt er den Leuten noch als Kompliment unter, durch Gestik und Betonung. Als auf einer der symmetrisch zur Bühne hochgezogenen Leinwände Linda McCartneys Portrait John Lennons erscheint, ist klar, was die „World Tour“ 1993 des herzensguten Jungen aus Liverpool sein soll: eine späte Trauerfeier, auf der das Erbe zügig verteilt wird, zugunsten der Nachlaßverwalter. Ulf Erdmann Ziegler

9.9. München, 14.9. London, 18.9. Dortmund, 23.9. Stuttgart, 6.10. Frankfurt/M., 9.10. Rotterdam, 13.10. Paris